I. Die Mutter kann nur dann leben, wenn die Tochter erstarrt
Eine Kollegin aus Deutschland bat mich wegen einer akut einsetzenden Erkrankung, eine tags darauf in der Schweiz beginnende Gestalttherapie-Weiterbildungsgruppe für sie zu übernehmen. Ich hatte durch meinen Urlaub keine Terminprobleme, habe spontan zugesagt und bin wegen der Kurzfristigkeit für Veranstalter und Teilnehmer völlig überraschend aufgetaucht. Die Enttäuschung vieler TeilnehmerInnen war groß; bei den einen, weil sie meine Kollegin bereits kannten und persönlich zu ihr wollten, bei den anderen, weil sie sich zu einer Frau gemeldet hatten, um spezifische Frauenprobleme bearbeiten zu können, und bei einigen, weil sie keine überraschenden Umstellungen wollten.
Nachdem die meisten ihre oben beschriebene Enttäuschung ausgedrückt hatten, bis hin zur Ablehnung meiner Person, machte die Hauptexponentin eine Arbeit mit dem „leeren Stuhl“. Sie stellte sich vor, dass ihre erwartete und ersehnte Therapeutin ihr gegenüber auf dem „leeren Stuhl“ sitzen würde. Im Gespräch mit ihr erlebte sie (als Protagonistin der Gruppe) ihre Enttäuschung, ihre Trauer und ihre Wut, drückte sie aus und warf dann die Therapeutin symbolisch aus dem Raum, indem sie den „leeren Stuhl“ vor die Türe stellte. So konnte sie diese alte Situation abschließen und sich auf die neue Situation konstruktiv einlassen. Dadurch schien die Basis für eine Gruppenarbeit mit mir geschaffen zu sein.
Als ich nun erstmals entspannt in die Runde schaute, entdeckte ich leicht hinter mir eine Frau, außerhalb meines Gesichtsfeldes sitzend, in einer starren, bewegungslos-gespannten Haltung. Ich sprach sie an und konnte keine Reaktion an ihr erkennen. Ich setzte mich neben sie und versuchte, sie mit Worten zu erreichen. Ich sagte ihr, was sie in mir auslöste, und was ich glaubte, von ihrem Erleben und ihrer Situation verstehen zu können: dass es schwer sein müsse, wenn die erwartete Therapeutin nicht kommt und statt dessen unerwartet ein fremder Mann; dass es unerträglich sein müsse, wenn so viele Aggressionen gegen die Therapeutin (Mutter) laut werden; dass das Chaos in der Gruppe, das gespannte und laute Hin- und Her aus Worten und Gefühlen schwierig zu handhaben sein müsse und vieles andere mehr. Ich versuchte, sie mit meiner Stimme zu beruhigen und zu erreichen, indem ich langsam, behutsam, mit Wärme, Geduld und Verständnis mit ihr sprach. Ich versuchte ihr mit Stimme, Mimik und Gestik einen sicheren Raum zu schaffen, konnte sie aber, wie es schien, nicht erreichen und auch nicht aus ihrer katatonen Starre herausholen.
Dann erinnerte ich mich, dass mir meine Kollegin eine kleine silberne Kugel, die ganz feine Glockentöne von sich gab, als Talisman geschenkt hatte und ich diese Kugel in meiner Tasche trug. Ich nahm die Kugel in meine fast flache Hand und begann so damit zu spielen, dass sie einerseits im Blickfeld der Klientin sein musste und diese andererseits den Glockenklang gut hören konnte. Ich spielte damit fast eine weitere Stunde, ihr leise und beruhigend erzählend, was mir zu der Kugel einfiel, an Kindergeschichten, Märchen, Traumsymbolen, etc. Endlich sah ich, dass die Starre ihrer Augen fast unmerklich geringer wurde, bis ihre Augen schließlich anfingen, den Bewegungen der Kugel zu folgen.
Ich bewegte die Kugel weiter, teils vor ihren Augen, teils an ihrem Ohr, bis ich den Eindruck hatte, dass es möglich wäre, weiter zu gehen. Ich fragte sie, ob sie die Kugel selbst in die Hand nehmen wolle; nach einem Zögern – bei dem ich Angst bekam, zu schnell gewesen zu sein und den Kontakt wieder verloren zu haben – bekam sie große Augen, wie ein beschenktes Kind, und so legte ich ihr die Kugel in ihre zögernd sich öffnende Hand. Sie schüttelte die Kugel in der Nähe ihres Ohrs, ließ sie vor ihren Augen leicht rollen und spielte lange damit. Dann sah sie mich an und ich riskierte es, ihre Hand leicht zu berühren; sie wurde nach und nach etwas weicher, nach längerer Zeit konnte ich ihr die Hand geben, und nach vielen Zwischenstufen kuschelte sie sich an mich und weinte. Es wurde deutlich spürbar, wie sehr sie den Körperkontakt brauchte, um ihre Angst und Spannung loslassen zu können. Als sie wieder etwas ruhiger wurde, fragte ich sie, ob sie mir sagen wolle, was sie in den letzten Stunden erlebt habe. Und so erzählte sie mir, wieder unter Schluchzen, von ihrem bis zum Zerreißen gespannten Körper und von ihrer Panik, die ihre Trauer, ihre Wut und ihre Sehnsucht zudeckte und ihren ganzen Körper, ihr Fühlen und ihr Denken erstarren ließ und, dass die Protagonistin die Therapeutin durch ihre gefühlsbetonte Lebendigkeit und durch den Hinauswurf „getötet“ hätte.
Später fanden wir heraus, dass ihre schizophrene Mutter jedesmal, wenn ihre Tochter Zeichen von Lebendigkeit zeigte, „erst so sonderbar“ und dann starr und unansprechbar wurde. Nur durch eine langandauernde absolute Bewegungslosigkeit des Kindes kam die Mutter aus diesem Zustand wieder heraus. Das Kind schämte sich immer stärker seiner Lebensäußerungen, mit denen es ihre Mutter „tötete“, hatte Schuldgefühle und erstarrte. Die Kernaussagen waren: „Es kann nur eine leben, die Mutter oder das Kind“ und „Das Kind ist schuld, wenn die Mutter nicht leben kann“.
Als in der ersten Phase der Gruppe die Protagonistin den Stuhl vor die Türe stellte, wollte diese ihre geliebte, aber ungetreue „Mutter“ loswerden, um ganz im „Hier und Jetzt“ sein zu können. Die Klientin aber setzte den Stuhl (Symbol) mit der „Mutter“ (Mensch) gleich. So bedeutete der Hinauswurf der „Mutter“ einen Tabubruch, in dem ihr unbewusster Wunsch, ihre Mutter zu töten, um selbst leben zu können, durch die Protagonistin ausgeführt wurde. Dieser Tabubruch musste durch die Erstarrung der Klientin sofort wieder rückgängig gemacht werden.
Die Morgensitzung war bereits eine Stunde überzogen und die Gruppe bemerkenswert aufmerksam und ruhig. Als neben dem kleinen Mädchen in der Klientin auch die erwachsene Frau wieder Platz hatte, fragte sie mich, ob es möglich wäre, sie nicht in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Ich sagte ihr unter der Bedingung zu, dass sie den Rest der Woche in der Gruppe immer mit mir und in der Freizeit mit einer anderen Person ihres Vertrauens aus dieser Gruppe in Körperkontakt wäre. Ich wollte ihr die Sicherheit und den nährenden Kontakt einer liebevollen, verlässlichen Mutter, zu der ich inzwischen für sie geworden war, geben bzw. den guten Kontakt zu anderen, für sie vertrauensvollen Personen garantieren.
Im Lauf der Woche taute sie mehr und mehr auf und konnte nach einigen Tagen schon an gemeinsamen Ballspielen teilnehmen.
Seit dieser Zeit trage ich diese Silberkugel immer bei mir.