Gruppentherapeutische Begleitung

Zwei Einzelfall-Vignetten aus der Gestalttherapie
von Dr. Ekkart Schwaiger, Wien

Veröffentlicht in: Renate Hutterer-Kisch (Hrsg.),
Psychotherapie mit psychotischen Menschen,
2. Auflage 1996, Springer-Verlag Wien New York

Übersicht:

I Die Mutter kann nur dann leben, wenn die Tochter erstarrt
II Die verbotene Liebe zum „bösen“ Vater
III Reflexionen

I. Die Mutter kann nur dann leben, wenn die Tochter erstarrt

Eine Kollegin aus Deutschland bat mich wegen einer akut einsetzenden Erkrankung, eine tags darauf in der Schweiz beginnende Gestalttherapie-Weiterbildungsgruppe für sie zu übernehmen. Ich hatte durch meinen Urlaub keine Terminprobleme, habe spontan zugesagt und bin wegen der Kurzfristigkeit für Veranstalter und Teilnehmer völlig überraschend aufgetaucht. Die Enttäuschung vieler TeilnehmerInnen war groß; bei den einen, weil sie meine Kollegin bereits kannten und persönlich zu ihr wollten, bei den anderen, weil sie sich zu einer Frau gemeldet hatten, um spezifische Frauenprobleme bearbeiten zu können, und bei einigen, weil sie keine überraschenden Umstellungen wollten.

Nachdem die meisten ihre oben beschriebene Enttäuschung ausgedrückt hatten, bis hin zur Ablehnung meiner Person, machte die Hauptexponentin eine Arbeit mit dem „leeren Stuhl“. Sie stellte sich vor, dass ihre erwartete und ersehnte Therapeutin ihr gegenüber auf dem „leeren Stuhl“ sitzen würde. Im Gespräch mit ihr erlebte sie (als Protagonistin der Gruppe) ihre Enttäuschung, ihre Trauer und ihre Wut, drückte sie aus und warf dann die Therapeutin symbolisch aus dem Raum, indem sie den „leeren Stuhl“ vor die Türe stellte. So konnte sie diese alte Situation abschließen und sich auf die neue Situation konstruktiv einlassen. Dadurch schien die Basis für eine Gruppenarbeit mit mir geschaffen zu sein.

Als ich nun erstmals entspannt in die Runde schaute, entdeckte ich leicht hinter mir eine Frau, außerhalb meines Gesichtsfeldes sitzend, in einer starren, bewegungslos-gespannten Haltung. Ich sprach sie an und konnte keine Reaktion an ihr erkennen. Ich setzte mich neben sie und versuchte, sie mit Worten zu erreichen. Ich sagte ihr, was sie in mir auslöste, und was ich glaubte, von ihrem Erleben und ihrer Situation verstehen zu können: dass es schwer sein müsse, wenn die erwartete Therapeutin nicht kommt und statt dessen unerwartet ein fremder Mann; dass es unerträglich sein müsse, wenn so viele Aggressionen gegen die Therapeutin (Mutter) laut werden; dass das Chaos in der Gruppe, das gespannte und laute Hin- und Her aus Worten und Gefühlen schwierig zu handhaben sein müsse und vieles andere mehr. Ich versuchte, sie mit meiner Stimme zu beruhigen und zu erreichen, indem ich langsam, behutsam, mit Wärme, Geduld und Verständnis mit ihr sprach. Ich versuchte ihr mit Stimme, Mimik und Gestik einen sicheren Raum zu schaffen, konnte sie aber, wie es schien, nicht erreichen und auch nicht aus ihrer katatonen Starre herausholen.

Dann erinnerte ich mich, dass mir meine Kollegin eine kleine silberne Kugel, die ganz feine Glockentöne von sich gab, als Talisman geschenkt hatte und ich diese Kugel in meiner Tasche trug. Ich nahm die Kugel in meine fast flache Hand und begann so damit zu spielen, dass sie einerseits im Blickfeld der Klientin sein musste und diese andererseits den Glockenklang gut hören konnte. Ich spielte damit fast eine weitere Stunde, ihr leise und beruhigend erzählend, was mir zu der Kugel einfiel, an Kindergeschichten, Märchen, Traumsymbolen, etc. Endlich sah ich, dass die Starre ihrer Augen fast unmerklich geringer wurde, bis ihre Augen schließlich anfingen, den Bewegungen der Kugel zu folgen.
Ich bewegte die Kugel weiter, teils vor ihren Augen, teils an ihrem Ohr, bis ich den Eindruck hatte, dass es möglich wäre, weiter zu gehen. Ich fragte sie, ob sie die Kugel selbst in die Hand nehmen wolle; nach einem Zögern – bei dem ich Angst bekam, zu schnell gewesen zu sein und den Kontakt wieder verloren zu haben – bekam sie große Augen, wie ein beschenktes Kind, und so legte ich ihr die Kugel in ihre zögernd sich öffnende Hand. Sie schüttelte die Kugel in der Nähe ihres Ohrs, ließ sie vor ihren Augen leicht rollen und spielte lange damit. Dann sah sie mich an und ich riskierte es, ihre Hand leicht zu berühren; sie wurde nach und nach etwas weicher, nach längerer Zeit konnte ich ihr die Hand geben, und nach vielen Zwischenstufen kuschelte sie sich an mich und weinte. Es wurde deutlich spürbar, wie sehr sie den Körperkontakt brauchte, um ihre Angst und Spannung loslassen zu können. Als sie wieder etwas ruhiger wurde, fragte ich sie, ob sie mir sagen wolle, was sie in den letzten Stunden erlebt habe. Und so erzählte sie mir, wieder unter Schluchzen, von ihrem bis zum Zerreißen gespannten Körper und von ihrer Panik, die ihre Trauer, ihre Wut und ihre Sehnsucht zudeckte und ihren ganzen Körper, ihr Fühlen und ihr Denken erstarren ließ und, dass die Protagonistin die Therapeutin durch ihre gefühlsbetonte Lebendigkeit und durch den Hinauswurf „getötet“ hätte.
Später fanden wir heraus, dass ihre schizophrene Mutter jedesmal, wenn ihre Tochter Zeichen von Lebendigkeit zeigte, „erst so sonderbar“ und dann starr und unansprechbar wurde. Nur durch eine langandauernde absolute Bewegungslosigkeit des Kindes kam die Mutter aus diesem Zustand wieder heraus. Das Kind schämte sich immer stärker seiner Lebensäußerungen, mit denen es ihre Mutter „tötete“, hatte Schuldgefühle und erstarrte. Die Kernaussagen waren: „Es kann nur eine leben, die Mutter oder das Kind“ und „Das Kind ist schuld, wenn die Mutter nicht leben kann“.
Als in der ersten Phase der Gruppe die Protagonistin den Stuhl vor die Türe stellte, wollte diese ihre geliebte, aber ungetreue „Mutter“ loswerden, um ganz im „Hier und Jetzt“ sein zu können. Die Klientin aber setzte den Stuhl (Symbol) mit der „Mutter“ (Mensch) gleich. So bedeutete der Hinauswurf der „Mutter“ einen Tabubruch, in dem ihr unbewusster Wunsch, ihre Mutter zu töten, um selbst leben zu können, durch die Protagonistin ausgeführt wurde. Dieser Tabubruch musste durch die Erstarrung der Klientin sofort wieder rückgängig gemacht werden.
Die Morgensitzung war bereits eine Stunde überzogen und die Gruppe bemerkenswert aufmerksam und ruhig. Als neben dem kleinen Mädchen in der Klientin auch die erwachsene Frau wieder Platz hatte, fragte sie mich, ob es möglich wäre, sie nicht in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Ich sagte ihr unter der Bedingung zu, dass sie den Rest der Woche in der Gruppe immer mit mir und in der Freizeit mit einer anderen Person ihres Vertrauens aus dieser Gruppe in Körperkontakt wäre. Ich wollte ihr die Sicherheit und den nährenden Kontakt einer liebevollen, verlässlichen Mutter, zu der ich inzwischen für sie geworden war, geben bzw. den guten Kontakt zu anderen, für sie vertrauensvollen Personen garantieren.
Im Lauf der Woche taute sie mehr und mehr auf und konnte nach einigen Tagen schon an gemeinsamen Ballspielen teilnehmen.
Seit dieser Zeit trage ich diese Silberkugel immer bei mir.

II. Die verbotene Liebe zum „bösen“ Vater

In einem zweiwöchigen Gestalt-Kibbuz im eidos-Haus Sonnleiten, bei dem 18 Personen wie in einer großen Wohngemeinschaft zusammenlebten, nahm auch eine therapieunerfahrene 28-jährige Frau, Mutter von 2 Kindern, teil. Sie verliebte sich in einen Teilnehmer, der ihre Gefühle zwar erwiderte, jedoch mit Rücksicht auf seine Ehe seine Gefühle mit ihr nicht ausleben wollte.
Sie wusste um seine Gefühle und konnte trotzdem ihren Wunsch nach totaler Symbiose mit ihm nicht durchsetzen. Sie suchte seine Nähe, kuschelte sich an ihn und versuchte sich seiner zu bemächtigen bzw. in ihn einzudringen, indem sie seine gesamte Zeit und Aufmerksamkeit für sich forderte und über jeden seiner Gedanken und seiner Regungen Bescheid wissen wollte. Sie wurde bald bei jedem Versuch, ihm näher zu kommen, zurückgewiesen.
Die Frau regredierte immer stärker, entwickelte immer mehr Ängste, Vorstellungen, Bilder und Stimmen. Auf der phänomenologischen Ebene war zu beobachten, dass sie ihren Körper mehr und mehr einigelte und zu zittern begann; ihr Blick wurde zuerst abwesend und dann immer starrer. Mehrmals darauf angesprochen, begann sie zu reden und erzählte davon, dass sie (jetzt) immer bei ihrer strengen und distanzierten Mutter sein müsse, die sie mit ihren unerbittlichen Augen kontrolliert und dirigiert, dass sie sie keinen Augenblick verlassen dürfe, dass dieser Mann, so wie ihr Vater ein „schlechter Mensch“ sei, dass die Sehnsucht nach ihm verboten sei und, dass sie keinen Augenblick bei ihm sein dürfe. Sie sprach von den Stimmen, die sie (jetzt) beschimpften und beschuldigten, dass auch sie ein „schlechter Mensch“ wäre, dass sie verdammt sei und in die Hölle gestoßen würde. Sie sah, dass abwechselnd sie, ihr Vater und ihre Mutter von obskuren Gestalten über eine Felswand gestürzt würden und unten zerschellten; sie zeigte panische Angst vor Verdammnis und Strafe. Sie sprach zum Teil so ängstlich gehetzt, dass man kaum etwas verstehen konnte, zum andern Teil leise, langsam und apathisch.

Ein erster Kontakt war möglich geworden, wenn er auch ständig durch Bilder und Stimmen, die sie beschimpften oder miteinander über sie sprachen, überlagert wurde, so daß er zeitweise kaum noch aufrecht zu erhalten war. Ich versuchte einerseits, sie in ihrer Angst, in ihren Bildern und mit ihren Stimmen zu verstehen und mich in diese ihre Welt einzuleben, um so den Kontakt zu mir und zu der Gruppe zu festigen. Nach langer Zeit war es schließlich möglich, dass sie mich und einige andere als Verbündete annahm, den Kampf gegen diese obskuren Gestalten uns überließ und sich im Körperkontakt mit einer anderen Teilnehmerin entspannen konnte.

Es waren außerhalb der Gruppenzeit immer 2 – 3 Gruppenmitglieder mit ihr zusammen. In der Therapiegruppe arbeiteten wir viel mit ihr, indem ein oder mehrere Teilnehmer die Stimme(n) übernahm(en), während ein anderer Teilnehmer gegen diese Stimmen anredete. Im weiteren Verlauf brachte er diese dann mit seiner Wut zum verstummen oder kämpfte sie (als ihr Hilfs-Ich) körperlich nieder, während die Klientin geschützt im Arm einer Teilnehmerin (gute Mutter) lag.
Nach einigen Tagen Intensivbetreuung konnte sie ihrer Mutter auf dem „leeren Stuhl“ (mit ihrem Hilfs-Ich und ihrer guten Mutter im Rücken) ihre Angst, ihre Enttäuschung und ihre Wut emotional mitteilen, sowie ihrem Vater ihre Sehnsucht und ihre Liebe. Danach wurden die Bilder und Stimmen schwächer, denn sie konnte sie nun als ihre eigene Wut auf die Mutter identifizieren. Der große Entwicklungsschritt war, durch das Erleben ihrer Wut auf ihre bis dahin übermächtige Mutter dieser die Macht zu nehmen. Nach und nach konnte sie wieder ohne besondere Betreuung am Rest des Kibbuz’ teilnehmen; ihre Verliebheit in den Mann verflüchtigte sich und wich einer starken Sympathie für ihn.

R E F L E X I O N E N

Psychotische Episoden verdeutlichen den Zusammenhang mit einem ungelösten Aspekt der Lebensgeschichte, der im „Hier und Jetzt“ zur prägnanten Gestalt werden kann.
Die beiden Beispiele zeigen, dass ein grundlegendes und noch offenes Lebensthema (Konflikt) Gestalt annahm, weil es bisher seelisch, emotional und intellektuell noch nicht erfasst, noch nicht bewusst war.
Die psychotische Episode ist der Versuch, einen für die Heilung notwendigen Entwicklungsschritt zu tun. Dieser kann durch die psychotherapeutische Unterstützung auch gelingen.
Auslöser von psychotischen Episoden sind meistens „live events“: 99 % der Psychoseauslöser sind einschneidende Erlebnisse im Alltag; sie können ganz selten auch einmal in der Gruppentherapie durch Berührtheit, emotionale Öffnung und Lockerung der Abwehr vorkommen.
Die Vorteile, wenn psychotische Episoden in Gruppen ausgelöst worden sind:

  • Für den Patienten gibt es keine Isolation und keine Ablehnung durch die Umgebung.
  • Der Kontakt geschieht mit gesunden Menschen, statt mit sedierten psychiatrischen Patienten.
  • Der Patient erhält kompetente therapeutische Hilfe bei der Problembearbeitung, möglichst ohne durch Medikamente sediert zu werden.
  • Ein stationärer Aufenthalt wird überflüssig, und viel menschliche Zuwendung als Unterstützung wird möglich.
  • Eine Integration in der Gruppe als „guter Familie“ kann geschehen.
  • Durch die überwältigende, überhängende „offene Gestalt“ ist der Kontaktzyklus der aktuellen Situation unterbrochen, wobei der Kontakt zur vorherigen, auslösenden Situation verlorengegangen ist, der Kontext fehlt.

Am Beispiel I.:
Die anderen Gruppenteilnehmer sind erleichtert durch den Abschluss der Situation mit der abwesenden Therapeutin und stellen sich auf die neue Situation ein. Die Klientin setzt auf der emotionalen Ebene die Therapeutin mit ihrer Mutter gleich. Die Erstarrung ist für die anderen unverständlich; für die Klientin gehört diese zum Hinauswurf der Mutter bzw. zu dem Tabu-Bruch, die Mutter hinauszuwerfen. Die Wiedergutmachung erfolgt durch die vertraute Form der Erstarrung.
Die Lösung der aktuellen Situation durch die Gruppe und deren Protagonistin aktualisiert in der Klientin diese überwältigende „offene Gestalt“, zu der sie im Augenblick keinen Kontakt hat. Sie erlebt nur die Erstarrung.
Die Erstarrung erfolgt, um den panikauslösenden Kontaktzyklus zu vermeiden:

  • Vorkontakt:     Der Wunsch, die Mutter hinauszuwerfen bzw. sie zu töten, um leben zu können („Ich will leben“),  ist total verboten.
  • Kontaktnahme:  Der Zorn auf die Mutter wegen dieser „Entweder-Oder-Situation“ wird vermieden.
  • Der Kontaktvollzug und damit die Integration wird vermieden, also der Zorn und der Tabu-Bruch.
  • Der Nachkontakt  mit seinen würdigenden Gefühlen fehlt, die Gestalt kann nicht in den Hintergrund treten, sie bleibt unvollendet,“offen“; die Erstarrung bleibt.