Der Schmerzkörper
Aus: Eckhart Tolle, Eine neue Erde, Arkana 2005, S. 140 – 170
Übersicht:
Die Geburt der Empfindung
Emotion und Ego
Die Ente mit dem Menschenverstand
Die Last der Vergangenheit
Der individuelle und der kollektive Schmerzkörper
Wie sich der Schmerzkörper erneuert
Wie Gedanken den Schmerzkörper nähren
Wie Dramatik den Schmerzkörper nährt
Massive Schmerzkörper
Unterhaltung, Medien und der Schmerzkörper
Der kollektive weibliche Schmerzkörper
Der Schmerzkörper von Völkern und Rassen
Das Denken geschieht bei den meisten Menschen unfreiwillig und automatisch und wiederholt sich ständig. Es ist nichts weiter als eine Art mentales Rauschen und erfüllt keinen echten Zweck. Genau genommen denkst du gar nicht: Das Denken widerfährt dir einfach. Die Feststellung „ich denke“ verweist auf einen Willensakt. Sie impliziert, dass du in dieser Angelegenheit mitreden kannst, dass du die Entscheidungsfreiheit hast. Bei den meisten Menschen trifft dies noch nicht zu. „Ich denke“ ist eine ebenso falsche Behauptung wie „ich verdaue“ oder „ich lasse mein Blut kreisen“. Die Verdauung läuft selbstätig, das Blut zirkuliert von alleine, das Denken geschieht ohne mein Zutun.
Die Stimme im Kopf hat ein Eigenleben. Die meisten Menschen sind dieser Stimme ausgeliefert, das heißt, sie sind vom Denken, vom Verstand besessen. Und da das Denken durch die Vergangenheit konditioniert ist, bist du gezwungen, die Vergangenheit ständig neu durchzuspielen. Der östliche Begriff dafür lautet Karma. Wenn du dich mit jener Stimme identifizierst, weißt du es natürlich nicht. Wenn du es wüsstest, würde sie nicht länger von dir Besitz ergreifen, denn du bist nur dann wirklich besessen, wenn du das besitzergreifende Etwas für das hältst, was du bist, das heißt, wenn du mit ihm eins wirst.
Seit Tausenden von Jahren lässt sich die Menschheit immer mehr vom Denken vereinnahmen und schafft es nicht, den Vereinnahmer als „Nichtselbst“ zu erkennen. Durch die vollkommene Identifikation mit dem Verstand ist ein falsches Ich – das Ego – entstanden. Die Festigkeit des Ego hängt davon ab, wie stark du – das Bewusstsein – dich mit deinem Verstand identifizierst, mit dem Denken. Das Denken ist nichts weiter als ein winziger Aspekt der Totalität des Bewusstseins, der Totalität, die du bist.
Der Grad der Identifikation mit dem Verstand ist von Mensch zu Mensch verschieden. Manche Leute sind bisweilen frei vom Denken, sei es auch noch so kurz, und der Frieden, die Freude und die Lebendigkeit, die sie in solchen Augenblicken erfahren, machen das Leben lebenswert. Es sind auch die Momente, in denen Kreativität, Liebe und Mitgefühl aufsteigen. Andere sind ständig in ihrem Egozustand gefangen. Sie sind sich selbst, aber auch anderen und ihrer Umwelt entfremdet. Wenn du sie anschaust, siehst du vielleicht die Anspannung in ihrem Gesicht, die gerunzelte Stirn, oder den abwesenden Blick in ihren Augen. Ihre Aufmerksamkeit wird überwiegend vom Denken beansprucht, und deshalb sehen sie dich gar nicht richtig und hören dir auch nicht richtig zu. Sie sind in keiner Situation präsent, da sie mit ihrer Aufmerksamkeit entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft weilen, die natürlich nur als Gedankenformen im Kopf existieren. oder sie treten durch irgendeine Rolle, die sie spielen, mit dir in Beziehung und sind deshalb gar nicht sie selbst. Die meisten Menschen sind sich selbst fremd, manchmal in solchem Maße, dass die Art und Weise, wie sie sich verhalten und mit ihren Mitmenschen interagieren von fast allen anderen als „aufgesetzt“ erkannt wird, außer von Leuten, die ebenso gekünstelt und ihrem wahren Kern entfremdet sind. Entfremdet zu sein bedeutet, dass du dich in jeder x-beliebigen Situation, an jedem Ort und in jeder Gesellschaft einschließlich deiner eigenen unbehaglich fühlst. Du versuchst stets, „zu Hause“ zu sein, schaffst es aber nie. Einige der größten Dichter des 20. Jahrhunderts wie Franz Kafka, Albert Camus, T. S. Eliot und James Joyce sahen in der Entfremdung das universale Dilemma des menschlichen Daseins, sie spürten es vermutlich tief in ihrem eigenen Innern und konnten deshalb so meisterhaft darüber schreiben. Sie haben keine Lösung anzubieten. Ihr Beitrag besteht darin, uns ein Abbild der menschlichen Zwangslage zu zeigen, damit wir sie besser erkennen können. Die eigene Zwangslage einzusehen ist der erste Schritt, um schließlich darüber hinauszugelangen.