Wesentliche Elemente der klassischen Gestalttherapie
Die drei „e“ der Gestalttherapie:
Die Gestalttherapie ist
- existentiell
- experimentell
- erlebnisorientiert
Bewusstheit (Awareness) (Wurzel: Zen-Buddhismus, Phänomenologie) ist ein totales Erlebnis, in das der Mensch in seiner Ganzheit (in seinen spirito-psycho-physischen Gestalten) einbezogen ist. Es ist der wache Kontakt des Körpers mit all seinen Sinnen und der Sinne mit der Umwelt. Wahrnehmen ist ein auf Bewusstheit gegründeter aktiver Prozess, der die Wirklichkeit durch den Akt des Wahrnehmens formt und verändert (Gestaltpsychologie). Je wacher, bewusster man ist, desto schärfer wird die Wahrnehmung, desto deutlicher wird die Kommunikation (= bewusstes Wahrnehmen meiner selbst und des Anderen) und das bewusste Wahrnehmen der Umwelt. Klares Wahrnehmen ist nur in der Gegenwart möglich und ist die Voraussetzung für situationsgemäßes Handeln.
Die Bewusstheit umfasst drei Ebenen:
- Interne Reize: körperlich, emotionale Innenreize – „ich spüre“ – z.B. meinen Herzschlag, Aufregung, Hunger, Spannung im Nacken, etc.
- Externe Reize: Außenreize – „ich sehe“, „ich nehme außen wahr“ – z.B. ich höre die Glocke, ich sehe die Vase, ich rieche Rosen, ich spüre den Wind.
- Intermediative Reize: Gedanken, Phantasien, Projektionen – „ich denke“ – an die Herfahrt, dass wir auf einer Wiese sitzen, dass du mich hasst, etc.
Gegenwartsbezogenheit (Wurzel: Taoismus, Phänomenologie)
ist für F. PERLS das wesentliche Ziel: „Für mich existiert nur das Jetzt. Jetzt ist Bewusstheit, ist Wirklichkeit. Die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht“. Bewusstheit kann nur im Jetzt sein und sich auf reale Fakten, konkretes Verhalten, den Körper und die Umwelt stützen. Wir versuchen die Befindlichkeit und den davon oft abweichenden Körperausdruck mit Hilfe des Awareness-Kontinuum (dem „Im-Hier-und-Jetzt-Bleiben“) zusammenzubringen. Das ist oft schwierig, weil wir gewohnt sind, uns oft in der Vergangenheit, oder in der Zukunft zu bewegen (F.PERLS definiert die Angst als Projektion der Vergangenheit auf die Zukunft). Vergangenheit und Zukunft werden aber nicht negiert, sie kommen in den „offenen Gestalten“ in der Gegenwart zum Vorschein. Wir fragen nach dem was und wie des gegenwärtigen Erlebens eines „unerledigten Geschäftes“.
Einfluss von A. KORZYBSKI : Ein integrierter Mensch spricht eine integrierte, nicht dualistische („Entweder-Oder“) Sprache! Mitteilungen in der Gestalttherapie finden in der Gegenwart in direkter Kommunikation statt, im Kontakt und in der „Ich-Du-Beziehung“ (M. BUBER: Dialogisches Prinzip); Verallgemeinerungen („immer“, „nie“, „alle“, „niemand“) werden in der Gruppe zurückgewiesen, da sie aus dem Awareness-Kontinuum wegführen (Widerstand, S.5). Es geht darum, den Klienten primär ins Erleben und nicht in die Reflexion zu führen.
Vermeiden und „unerledigte Geschäfte“ (Wurzel: Gestaltpsychologie)
F. PERLS: „Die Vergangenheit ist vorbei, und doch tragen wir im Jetzt unseres Seins vieles aus der Vergangenheit mit uns, doch nur soweit wir ,unerledigte Situationen’ haben. Was in der Vergangenheit geschah, wurde entweder assimiliert und zu einem Teil von uns, oder wir tragen es als ,unerledigte Situation’, als ,unvollendete Gestalt’ mit uns herum“ (1969). Experimente mit unerledigten Aufgaben: B. ZEIGARNIK (S.8).
„Unerledigte Geschäfte“ hießen bei F. PERLS jene unbewussten Fixierungen aus der Vergangenheit, jene verleugneten und unterdrückten Bedürfnisse des heranwachsenden Organismus, der zurückgehaltene Protest gegen Verlassenheit, Mangel, Unterwerfung und Missachtung, nicht ausgedrückte Trauer über einen Verlust, und die damit verbundenen Gefühle von Verzweiflung, Wut und Trauer.
Vermeiden ist der Gestaltausdruck für Widerstand. Durch Vermeiden hindert sich der neurotische Organismus daran, Kontakt zwischen sich und der Umwelt herzustellen. Der Neurotiker vermeidet den Kontakt mit der Gegenwart, indem er seine Bedürfnisse nicht wahrnimmt (Sinne), nicht auf Bedürfnisbefriedigung sinnt (sinnvolles Denken ist Probehandeln) nicht auf Objekte zugeht (Aggression) und damit neue „offene Gestalten“ schafft.
F. PERLS ist nicht an Traumata interessiert sondern an Reifung: Erlangen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In der Therapie geht es darum, im Hier und Jetzt zu erleben, wie der Konflikt am Leben erhalten wird, indem der Kontakt mit dem Konflikt und den daran Beteiligten vermieden wird (Konfliktaustragung vermeiden heißt Kontakt vermeiden); außerdem geht es darum die mit diesen „unerledigten Geschäften“ verbundenen Erlebnisse, Stimmungen, Gefühle, Bedürfnisse, Impulse, Verhaltensweisen, Gedanken und Phantasien durch Konfrontation, Identifikation und Experimente bewusst erlebbar zu machen, so dass sie „verdaut“ und integriert werden können.
Die Gestalttherapie sieht den Menschen als Körper-Seele-Geist-Organismus, der in einem homöostatischen Gleichgewicht (Kontaktzyklus) ist.
Die Abfolge von auftauchenden und sich schließenden Bedürfnislagen strukturiert die Selbstregulation des Organismus (Kurt GOLDSTEIN).
Unabgeschlossene Vorgänge können vom Hintergrund her die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die Bildung neuer Gestalten stören (ZEIGARNIK Effekt).
Das Selbst, das Ich, das Es und die Persönlichkeit
Das Selbst ist nach PERLS, HEFFERLINE und GOODMAN, der Teil des Feldes, der der Andersheit entgegengesetzt ist, man kann also das Selbst nur im Gegensatz zur Andersheit finden. Es gibt eine Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen, die Kontaktgrenze, die immer in Bewegung ist und dort ist, wo ich auf das Andere treffe, das heißt, wir erfahren uns immer nur an den jeweiligen Punkten unserer Berührung mit der Umwelt. Das Selbst ist der Inbegriff unseres Erfahrenes der Welt im Hier und Jetzt. Dieses Selbst entfaltet sich in jedem Kontaktprozess und verschwindet mit ihm wieder. L. PERLS: Kontakt kann nur an den Grenzen stattfinden, ist ein Erleben der Grenze und an der Grenze.
Das Es: innere Impulse, vitale Bedürfnisse und körperlicher Ausdruck. Das Es funktioniert auf für mich kaum wahrnehmbare Weise. Störung: Psychose
Das Ich: Bewusste Annahme, Ablehnung oder Begrenzung eines Kontakts. Störung: Neurose
Die Persönlichkeit (Selbstbild Gewohnheiten, Merkmale) ermöglicht Verantwortung für Empfindungen und Handlungen zu übernehmen. Störung: Neurose
Zyklus von Kontakt und Rückzug
Der gesunde Mensch befindet sich in einem ständigen Prozess der Bildung und darauffolgenden Auflösung von Gestalten, dessen Verlauf seiner Bedürfnishierarchie gegenüber den sukzessiv auftauchenden „Figuren“, auf dem Hintergrund seiner Persönlichkeit folgt.
Kontaktzyklus nach F. PERLS: geschlossener Kreis von
- Vorkontakt: Brauchen, Wünschen, Wollen (Selbst auf der Es-Ebene)
- Kontaktnahme (Orientierung und Umgestaltung): Wahrnehmen und Zugreifen, Annehmen und Verwerfen, Zerlegen und Beseitigen (Selbst auf der Ich-Ebene)
- voller Kontakt (Kontaktvollzug, Endkontakt): sich hingeben, genießen (gesunde Konfluenz auf der Ich-Ebene)
- Nachkontakt (Rückzug): Einsinken lassen, nachspüren (Sättigung), bewerten (Selbst auf der Persönlichkeitsebene).
Die Widerstände (Wurzel: Psychoanalyse)
sind Unterbrechungen oder Störungen im normalen Kontaktzyklusverlauf.
- Konfluenz: Auf Grund fehlender Kontaktgrenzen kommt es zur Verschmelzung (als Nichtkontakt), z.B. Verwechslung eigener Bedürfnisse mit denen Anderer: Chronisch symbiotische Beziehungen, das chronische Harmoniebedürfnis verdrängt andere wichtige Bedürfnisse („Wir“-Sätze).
- Introjektion: Vorstellungen, Rituale und Prinzipien Anderer werden unhinterfragt geschluckt, ohne sie im Geringsten verdaut oder assimiliert zu haben (bes. „man sollte“, „man müsste“, etc. der traditionellen Erziehung, der Introjektor sagt „Ich“, wenn er andere meint).
- Projektion: Störung der Kontaktgrenze, bei der dem Anderen etwas zugeschrieben wird, was in Wirklichkeit bei uns selbst abläuft, z.B. eigene unerlaubte Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, oder ungeliebte und verbotene Persönlichkeitsanteile (Der Projektor sagt „die Anderen“, wenn er sich selbst meint). „Wir sind alle sehr gut in jenem verlogenen Faschingsverhalten, wo wir unserem Partner eine lächerliche Maske umhängen, um ihn dafür zu kritisieren“.
- Retroflektion: Die mobilisierte Energie wird gegen sich selbst gerichtet, statt nach außen (Masochismus, Somatisierung), z.B. ich beiße die Zähne zusammen, um nicht aggressiv zu werden, Selbstlob, wenn ich mir Lob wünsche, ich rolle mich zusammen, wenn ich Kontakt wünsche, Wort und Satzabbrüche -> ich unterbreche mich selbst, Selbstgespräche, wenn ich reden will, Benutzung von reflektiven Verben.
- Deflektion ( = Umlenkung, POLSTER) (Retroflektion + Projektion): Vermeidung des direkten Kontakts durch Flucht-, Vermeidungs- oder Ablenkungsmanöver, wie Abschweifen, Ablenken auf das Erleben anderer, Weitschweifigkeit zu unwesentlichen Inhalten (PERLS sagte dazu „mind fucking“ und „bullshit“).
Das Schichtmodell (Persönlichkeitstheorie nach F. PERLS).
- Klischèe-Schicht: Phrasen und Redensarten.
- Rollenspiel-Schicht: Inkongruenz von Inhalt und Ausdruck der Handlung.
- Engpass (Impasse): ausweglose psychische Blockierung, bedingt durch Angst.
- Implosion: Eine Art Lähmung, die durch die innere Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Kräften verursacht wird.
- Explosion: tiefe Trauer, Zorn, Freude, (Orgasmus).
- Tiefliegende echte Schicht: Authentische Schicht, Kern.
Psychoanalyse
Die Gestalttherapie ist das widerspenstigste Kind der Psychoanalyse; die PERLS haben beide eine lange psychoanalytische Ausbildung gemacht (Fritz: Analysen bei Karen HORNEY, deren Schülerin Clara HAPPEL, Eugen HARNICK und Wilhelm REICH, Kontrollanalysen bei Helene DEUTSCH und Eduard HITSCHMANN; Lore: Analysen bei Clara HAPPEL und Karl LANDAUER, Kontroll-analysen bei Otto FENICHEL) und waren jahrzehntelang als Psychoanalytiker tätig. Die Gestalttherapie wurde stark von den beide Neuerern der Psychoanalyse W. REICH (direkt) und S. FERENCZI (indirekt über LANDAUER und HITSCHMANN, zwei FERENCZI-Schüler) beeinflusst. F. PERLS baute auf der Psychoanalyse auf, obwohl er sie ständig kritisierte: z.B. sind die oralen Widerstände Differenzierungen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, bzw. die Widerstandsformen (S.5) Umformulierungen der FREUD’schen Abwehr.
F. PERLS und die Psychoanalyse
C.G.JUNG: „Die theoretischen Unterschiede lassen sich in letzter Instanz auf Unterschiede in den Persönlichkeitsstrukturen zurückführen: Man wählt das Vorbild, das der eigenen psychischen Struktur entspricht“.
Das Unbewusste: F. PERLS spricht lieber von „in diesem Augenblick nicht Bewusstem“ und „Ungewusstem“ und untersucht den gegenwärtigen Prozess der Verdrängung über das Hören auf den Körper, die Empfindungen und Gefühle, anstatt den Inhalt des verdrängten Materials über die verbale Assoziation. Wie ein Ball im Wasser: Die Bewusstheit schaut aus dem Wasser heraus, die Unbewusstheit ist unter der Wasseroberfläche unsichtbar und der Ball kann sich drehen(S.8).
Die Neurose: Für F. PERLS entsteht die Neurose eher aus fixierten „offenen Gestalten“, aus unterbrochenen oder unbefriedigten Bedürfnissen, als aus den von der Gesellschaft verbotenen oder wegen der Zensur des Über-Ichs verdrängten Wünschen; also aus dem Konflikt zwischen dem Organismus und seiner Umgebung (Eltern und Andere), und daher ist sie in erster Linie an der Kontaktgrenze zwischen dem Einzelnen und dem Lebensraum erfassbar. Der Neurotiker kann sein Feld nicht organisieren (S.7,8).
Die Übertragung: F. PERLS findet die bewusste Verwandlung der spontanen Übertragung in eine „Übertragungsneurose“ für unnötig, gefährlich und die Therapie verlängernd. Er fördert Kontakt und Beziehung, von Mensch zu Mensch, was mehr auslösen kann. Übertragung (eine durch fixierte offene Gestalten verzerrte Wahrnehmung) kann den Kontakt überlagern, und wird sofort angesprochen.
I and Thou, Here and Now, What and How: F. PERLS meint, daß die Suche nach kindlichen Traumata, zu einer Rechtfertigung und Fixierung der Neurose führen kann (LACAN: „Die Interpretation nährt das Symptom“):
- es geht um den Kontakt und um die „Ich-Du-Beziehung“ (M. BUBER),
- um die Gegenwart (S.3) anstelle der Vergangenheit,
- um das „Wie“ und um das „Wofür“ anstelle des „Warum“,
- um die Übernahme der Verantwortung anstelle von Fatalismus.
Der Wiederholungszwang ist nach PERLS durch das unbefriedigte Bedürfnis, fixierte „offene Gestalten“ zu „schließen“ bedingt (ZEIGARNIK-Effekt, S.8)
Die Ambivalenz: Das von C. G. JUNG entwickelte Thema Ambivalenz findet seine Entsprechung in den Arbeiten zur Integration gegensätzlicher Polaritäten.
Der Traum: F. PERLS nützt den Traum nicht als Ausgangspunkt für Wortassoziationen. Er sieht jede Person und jedes Element eines Traums als Projektion des Träumers an und schlägt häufig vor, diese nacheinander durch Identifikation zu verkörpern, um sie wieder integrieren zu können (wie O. RANK). Der Traum ist eine existentielle Botschaft.
Die Widerstände: F. PERLS: „Was im allgemeinen als Widerstand bezeichnet wird, ist nicht nur eine stumme Barriere, die beseitigt werden muss, sondern eine kreative Kraft, um eine schwierige Welt zu meistern. Anstatt zu versuchen, den Widerstand zu beseitigen, sollte man sich besser auf ihn konzentrieren.“ (Siehe Vermeiden, S.3).
Katharsis durch emotionales Abreagieren: Äußerung starker Emotionen, die u.U. zur Abreaktion, Entspannung und Entdramatisierung führen kann; ein anschließendes Verbalisieren ist notwendig.
Gestaltpsychologie
Gestalttheorie: Christian von Ehrenfels (Grazer Schule), Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Kurt Goldstein, Kurt Lewin, Bluma Zeigarnik.
Gestalt ist eine sinnvolle Ganzheit. Das Ganze geht den Teilen voraus (Koffka ) und ist anders und mehr, als die Summe seiner Teile. Ein Teil eines Ganzen ist etwas anderes, als der gleiche Teil an sich oder innerhalb eines anderen Ganzen. Eine Gestalt ist die Koordination von Einzelkomponenten, deren wechselseitige Abhängigkeit in einem ganzheitlichen Zusammenhang Eigenschaften zeigt, die keinem der Einzelelemente zugeschrieben werden können, sondern nur dem Ganzen. Das typische Beispiel dafür ist eine Melodie; nicht die einzelnen Töne, sondern ihr Zusammenhang macht das Wesen der Melodie aus; selbst wenn jeder Ton verändert wird (andere Tonart), bleibt die Gestalt erhalten.
Figur-Grund-Beziehung: Die Gestalt ist eine sich von der Umgebung mehr oder weniger scharf abhebende Figur, deren Sinn von ihrem Hintergrund wesentlich bestimmt wird. Von der Wahrnehmung der Figur-Grund-Beziehung abhängig, sprechen wir von einer starken oder schwachen, klaren oder diffusen, lebendigen oder langweiligen, gutumrissenen oder verschwommenen Gestalt.
Feldtheorie (K. LEWIN): Im Lebensraum stehen die Person und ihre Umwelt in Wechselbeziehung und individuelles Verhalten rührt immer von der Beziehung zwischen dem konkreten Individuum und der konkreten Situation her. Das Individuum ist nicht ohne sein Umfeld denkbar und daher nicht davon zu trennen. Das Bedürfnis organisiert das Feld (z.B. Hunger). Beziehung des Organismus zu seiner Umwelt (Kurt Koffka) ist das zentrale Thema der Gestalttherapie, wo diese Umwelt hauptsächlich aus den Anderen (Therapeut und Teilnehmer) besteht.
Die Gestalttherapie befasst sich mit ganzheitlich organismischem Verhalten und Motivation zum Handeln, das bedeutet: Figur in einer Gestalt wird das, was das Zentrum unserer Aufmerksamkeit anzieht (Bedürfnisse und Impulse). Was die Aufmerksamkeit verliert, wird zum Hintergrund, der die Figur unterstützt.
Gestaltbildung ist der Akt der Differenzierung eines Teiles aus dem Gesamtfeld, der Zentralität und Wichtigkeit bekommt, ohne den Kontakt mit der Umwelt zu verlieren. Aus dem Hintergrund aller, meist unbewussten Prozesse unseres Organismus erreichen einzelne, für uns im Moment wichtige Impulse unser Bewusstsein. Figur wird aus der Gesamtheit unseres Prozesses immer das, was für uns im Moment vordergründig, interessant, wichtig, genussversprechend oder sinnvoll ist (organismische Selbstregulation). Wahrnehmung ist nicht nur von den Eigenschaften des Objekts abhängig, sondern auch subjektiv, das heißt sie wird auch durch die Bedürfnisse, Motive und Erfahrungen beeinflusst. Die Beziehung von Bewusstsein und Unbewussten bekommt eine neue Dynamik (Ball im Wasser, S.6).
Optische Täuschungen sind Organisationseffekte der Wahrnehmung, die zum Teil auf Grund der Lebensumstände notwendig und erworben sind, andere Effekte und Täuschungen gibt es aber auch von Natur aus: perspektivische Täuschungen und Bewegungsillusionen aus Verwandtschaft und Ähnlichkeiten. Man ging dann dazu über, Wahrnehmungseffekte zu untersuchen, die auf einen emotionalen Hintergrund zurückzuführen sind: Umspringbilder: Die alte, junge Frau, Zwei Gesichter – Vase, etc.
ZEIGARNIK-Effekt nennt man die bei vorzeitig abgebrochenen Aufgaben und unbefriedigten Bedürfnissen erzeugte Spannung, das „Quasi-Bedürfnis, die Aufgabe zu Ende zu bringen, „die unvollendete Gestalt zu schließen“. Der psychische Druck, der durch eine nicht beendete Arbeit erzeugt wird, erzwingt die laufende Beschäftigung in hohem Maße (der Erinnerungsquotient ist zweimal höher, als bei einer beendeten Arbeit, die „abgeheftet“ und schnell vergessen wird!): Das Fortbestehen eines derartigen psychischen Druckes erzeugt auf die Dauer eine chronische Spannung; F. PERLS wird darin sogar einen der Gründe für das Entstehen von Neurosen sehen.
Gesetze der Gestaltpsychologie
Eigenschaften der Gestalt: Eine Gestalt ist, abgesehen von ihrer Ganzheit, dadurch gekennzeichnet, dass sie abgesondert, abgehoben, geschlossen und gegliedert ist (KATZ S.57).
Gesetz der guten Gestalt: Für die Bildung von Einheiten ist das gegenseitige Verhältnis maßgebend. Es erscheint das als zusammengeschlossen, was seiner Natur nach zusammengehört. Die natürliche Gruppierung ist sinnvoll. (METZGER 1968, S.108). – Dies gilt auch für die geistige Arbeit (KATZ S.118).
Gesetz der Prägnanz: Jedes System hat die Tendenz zu ganz bestimmten ausgezeichneten Verhaltensweisen (KATZ, 1969, S.51). Jedes System wird so gut sein, wie es die herrschenden Bedingungen erlauben (gut: Regelmäßigkeit, Symmetrie, Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Ausgeglichenheit, maximale Einfachheit, Knappheit) (KOFFKA, 1935).
Gesetz der Nähe: Die Zusammenfassung der Teile eines Reizganzen erfolgt unter sonst gleichen Umständen im Sinne des kleinsten Abstands (KATZ S.33).
Gesetz der Gleichartigkeit: Sind mehrere Elemente wirksam, so besteht die Tendenz zur Zusammenfassung der gleichartigen Elemente zu Gruppen (KATZ S.35).
Gesetz der Geschlossenheit: Systeme, die eine Eigenschaft umschließen, werden unter sonst gleichen Umständen leichter als eine Einheit aufgefasst, als diejenigen, die sich nicht umschließen (nach KATZ S.35).
Gesetz der durchgehenden Kurve: Diejenigen Teile einer Figur, die eine durchgehende Kurve ergeben, bilden leichter Einheiten (nach KATZ S.35).
Gesetz des gemeinsamen Schicksals: Solche Elemente schließen sich zusammen, die sich gemeinsam und auf ähnliche Weise bewegen, oder die sich überhaupt im Gegensatz zu anderen ruhenden bewegen; mit anderen Worten: die ein gemeinsames Schicksal haben (KATZ S.36).
Tendenz des Bezugsystems: Bei nicht mehr als zwei Gebilden wird das anschaulich Umschließende Bezugsystem für das Umschlossene, das Eindringliche für das Blasse, das anschaulich Senkrechte für das Waagrechte und Schräge, die Randgebiete für das Angeblickte. Bei mehreren Gebilden wird eines zum Bezugssystem für die anderen (ausgenommen bestimmte Umschließungsverhältnisse). Ferner das Mittlere für die Äußeren. Das anschaulich Wirkliche (feste, solide) für das anschaulich Scheinhafte, Unstoffliche. Kommen Gebilde zu bestehenden hinzu, so bleibt das bestehende Bezugssystem (ausgenommen Sättigung) (METZGER S.157).
Gesetz der Auslösung: Da sich das Wahrnehmungsfeld nach dem Prinzip der Selbstorganisation gliedert, sind es niemals „Reize“, die eine Handlung auslösen, sondern innere, auf Bedürfnissen beruhende Spannungen, die ihrerseits bestimmen, was mit den Reizen gemacht wird (KATZ S. 144).
Die humanistische Psychologie
Abraham MASLOW, Rollo MAY, Carl ROGERS, Charlotte BÜHLER, Jacob L. MORENO, Ludwig BINSWANGER, Fritz PERLS, etc.
1950 informell entstanden, war ihr Anliegen, „den Menschen wieder ins Zentrum der Psychologie zu stellen“, einer Psychologie, die zunehmend „verwissenschaftlicht“, kalt und „inhuman“ geworden war, als „dritte Kraft“ zwischen der orthodoxen Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie zu wirken.
Diagnostik
Die Gestaltdiagnostik ist eine prozessuale Diagnostik unter Beachtung inter- und intrapsychischer Prozesse bei Klient und Therapeut (Übertragung, Gegenübertragung und Widerstände). Ausgehend von der phänomenologischen Ebene, von dem, was der Klient im Hier und Jetzt zeigt, sollen die Strukturen erfasst werden, als Konfigurationen von Abläufen und Szenen, die in der Zeit eine relative Konstanz zeigen.
Einige Techniken der Gestalttherapie
Awareness-Übungen: Awareness ist die vollständige Bewusstheit in der Gegenwart, Aufmerksamkeit für alle Innenreize (körperlich, emotional), Aussenreize, Gedanken und Phantasien (s.S. 2).
Vier von F. PERLS empfohlene Schlüsselfragen:
- „Was machst du gerade?“
- „Was vermeidest du gerade?“
- „Was fühlst du gerade?“
- „Was willst du, was erwartest du von mir?“
Das Monodrama: Eine Variante des Psychodramas (J. L. MORENO), in der Protagonist selbst nacheinander verschiedene Rollen der von ihm angesprochenen Situation (Eltern, Traumteile, Körperteile) einnimmt; dies erleichtert das Darstellen der eigenen Gefühle (auch wenn das Gegenüber nicht erreichbar ist) und das Entwirren der eigenen Vorstellungen von dieser Person.
Der heiße und der leere Stuhl: Der „hot seat“, war der Sessel am Podium neben Fritz PERLS, auf den sich jemand setzte, der „arbeiten“, d.h. sich auf einen Prozess mit ihm als Therapeuten einlassen wollte; gegenüber war der „empty chair“, auf dem sich der Klient, je nach Bedürfnis, eine Person vorstellen konnte, mit der er in Beziehung treten wollte (seine Frau, sein verstorbener Vater; ein Topdog-Underdog-Dialog). Im Rollenspiel können Folgen von misslungenem Kontakt, wie Introjektion und Projektion, beseitigt werden.
Die Polaritäten: Die Suche nach einer harmonischen Integration der komplimentären Polaritäten des menschlichen Verhaltens, anstatt das eine zugunsten des anderen auszuschalten, oder vermengte Gefühle anzustreben.
„Wie der Vogel zwischen den Wolken und auch wie der einfache Radfahrer findet das Leben sein Gleichgewicht nur in der Bewegung“ (G. DUHAMEL).
Das Darstellen (Durchagieren): Im Gegensatz zum „Ausagieren“, einem Ausweichen, das die bewusste Wahrnehmung (und verbale Analyse) unterbricht, bedeutet das Darstellen eine Verstärkung, die das Gewahrsein unterstützt: Eine sichtbare und (körperlich) spürbare Handlung wird vorgeschlagen, die den Körper und die Gefühle mobilisiert und so dem Klienten erlaubt, die Situation intensiver zu erleben und verschwommene, vergessene, verdrängte und auch unbekannte Gefühle zu empfinden und zu erforschen.
Die Verstärkung (Übertreibung), um zu verdeutlichen: Eines der Hauptthemen der Gestalttherapie ist, das Implizite explizit zu machen, indem das, was sich im Inneren abspielt, außen sichtbar gemacht wird, damit im Hier und Jetzt, an der Kontaktgrenze zwischen einer Person und ihrer Umgebung ihre Art zu reagieren deutlich bewusst wird. Der Gestalttherapeut ist aufmerksam für alle latenten emotionalen Reaktionen, spricht diese an, bzw. lässt diese durch den Klienten verstärken, damit sie bewusst wahrgenommen werden können.
Was kein Gehör findet, hat eher die Tendenz zu schreien, als zu schweigen (im Körper über psychosomatische Beschwerden).
Mit dem ganzen Körper zeigen: F. PERLS: „Tanze deine Angst!“
Die Runde machen: z.B. mit dem Satz: „Ich…….und das ist meine Existenz“.
Skillful Frustration: Indem der Therapeut die Wünsche des Klienten in einer sanften Weise nicht erfüllt, wirft er ihn auf seine eigenen Kompetenzen zurück.
Beistand (Support): Die therapeutische Beziehung (bzw. Gruppe) muss den fördernden Hintergrund abgeben, auf dem der Patient seine verschütteten Fähigkeiten entdecken kann. In einem richtig dosierten und situationsgerechten Umgang mit Beistand und Frustration besteht die Kunst des therapeutischen Handelns.
Nachnähren: Der Therapeut, als gute Elternfigur, bietet dem Klienten eine „wiedergutmachende“ narzisstische Erfahrung zur Kompensation frühkindlicher Entbehrung von Zärtlichkeit (nach Sandor FERENCZI). – (In den letzten Jahren wurde es aufgegeben, dass der Therapeut selbst das Nachnähren übernimmt – ein Gruppenteilnehmer in der Rolle eines idealen Elternteils übernimmt diese Aufgabe).
Dem Therapeuten, Gruppenteilnehmer oder an besten einem Gegenstand (Polster, Decke, Übungsgerät) das antun, was man sich selber antut: (bes. bei Retroflektion), wenn der Klient gegen sich selber richtet, was ursprünglich nach außen gerichtet werden sollte, wird er angeregt, z.B. den Druck, den er spürt, auf den Therapeuten etc. auszuüben.
Das direkte Ansprechen (nicht über etwas sprechen): Um von einer inneren intellektuellen Betrachtungsweise in einen direkten emotionalen Kontakt zu kommen, um die eigenen Phantasien mit der „Wirklichkeit“ des anderen zu vergleichen, um die eigenen Projektionen erfahren zu können.
Die Traumarbeit: Nachdem er seinen Traum erzählt hat, identifiziert sich der Träumer mit den einzelnen Traumelementen, verkörpert und erlebt sie (denn jedes Traumelement ist nach F. PERLS eine „offene Gestalt“ oder ein Aspekt, eine Projektion des Träumers).
Die Arbeit mit kreativen Medien: Neben Verbalisierung und Körperausdruck arbeitet die Gestalttherapie auch mit Bildern und Metaphern, dabei kommen künstlerische Ausdrucksformen zum Einsatz: Zeichnen, Malen, Modellieren, Bildhauen, Musikmachen, Tanzen, Dichten, etc.
Zur Geschichte der Gestalttherapie
Entwicklung in den U.S.A.
Zwei Schulen:
1. Klassische Gestalttherapie („Westküstenstil“): San Francisco, Los Angeles, Esalen; steht dem „human potential movement“ nahe, der Persönlichkeitsentwicklung, der Selbstverwirklichung und der Erlebnisintensivierung für ,Normalneurotiker’. Arbeit in workshops, geprägt durch Direktheit, Konfrontation, Offenheit und Authentizität.
Hauptvertreter: Fritz PERLS, Claudio NARANJO, James SIMKIN, R. PRICE.
2. Integrative Gestalttherapie („Ostküstenstil“): „New York Institute for Gestalttherapy“ und „Cleveland Gestalt Institute“. Methode der klinischen Psychotherapie: größere therapeutische Abstinenz, mehr Raum für die Biographie und stärkere Beachtung der Übertragungsphänomene, längere therapeutische Arbeitsbeziehungen.
Hauptvertreter: Lore PERLS, Paul GOODMAN, Paul WEISS, Elliott SHAPIRO, Isadore FROM, Walter KEMPLER, Joseph ZINKER.
2a. Erving und Miriam POLSTER verfassten eine der ersten systematischen Darstellungen der Gestalttherapie.
Wiedereinführung der Gestalttherapie nach Europa
Ab Ende der sechziger Jahre kehrte die Gestalttherapie nach 30 Jahren nach Europa zurück und passte sich bei ihrer Aufnahme an die Entwicklung in Europa an, nicht zuletzt an Gruppentherapie und Gruppendynamik. Deutschsprachige Gestalttherapeuten knüpften vertieft an BUBERS Dialogik und an die inzwischen weiterentwickelte Phänomenologie an.
Heimkehr nach Europa durch:
Workshops amerikanischer Gestalttherapeuten, wie Laura PERLS u.a.,
Werner ARNET, ein F. PERLS-Schüler aus Kanada: Eidetische Wahrnehmung,
Ruth COHN zentriert sich auf die Erlebnisaktivierung: TZI, Erlebnistherapie,
Hilarion PETZOLD u.a. gründen das Fritz Perls Institut in Düsseldorf.
Praxis der Gestalttherapie
- Klinische Arbeit mit psychiatrischen Patienten,
- Einzeltherapie,
- Fortlaufende, wöchentliche Gruppentherapie,
- Wochenendgruppen,
- Gestalt-Kibbuz,
- Paar- und Familientherapie,
- Gestaltpädagogik,
- Organisationsberatung, Coaching,
- Supervision.
Wurzeln der Gestalttherapie: Vorläufer und Beeinflusser
-
- Phänomenologie und Existentialismus: Sören Kierkegaard, Franz Brentano, Edmund Husserl, Max Scheler, Martin Buber, Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski, Karl Jaspers, Paul Tillich, Martin Heidegger, Gabriel Marcel, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty.
- Gestalttheorie: Christian von Ehrenfels, Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Kurt Goldstein, Kurt Lewin, Bluma Zeigarnik.
- Psychoanalyse: Sigmund Freud, Sandor Ferenczi, Georg Groddek, Otto Rank, Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Wilhelm Reich, Karen Horney.
- Psychodrama: Jacob Levi Moreno.
- Expressionismus: Salomon Friedländer („Schöpferische Indifferenz“).
- Holismus: Jan Christiaan Smuts.
- Allgemeine Semantik: Alfred Korzybski.
- Psychosynthese: Roberto Assagioli.
- Wachtraum: Desoile.
- Klientenzentrierte Therapie: Carl Rogers.
- Transaktionsanalyse: Eric Berne.
- Gruppendynamik: Kurt Lewin.
- Begegnungsgruppen: Will Schutz.
- Vegetotherapie: Wilhelm Reich.
- Bioenergetik: Alexander Lowen.
- Sensorische Bewußtheit: Charlotte Selver.
- Rolfing: Ida Rolf.
- Anarchismus: Proudhon, Kropotkin.
Weiterführende Literatur
- POLSTER, E. und POLSTER, M.: Gestalttherapie, Kindler Verlag, 1975
- ZINKER, J.: Gestalttherapie als kreativer Prozess, Junfermann Verlag, 1990
- PERLS, F.: Das Ich, der Hunger und die Aggression, Klett-Cotta Velag, 1979
- PERLS, F.: Gestalt – Wachstum – Integration (Hrsg. H.Petzold) Junfermann, 1990