Grundlagen der traditionellen Gruppentherapie
von Irvin D. Yalom

aus: Im Hier und Jetzt. Richtlinien der Gruppenpsychotherapie.
2005, S. 61 – 74

Inhaltsübersicht

1) Ziele
2) Therapeutische Faktoren

  • a) Einflößen von Hoffnung
  • b) Universalität
  • c) Informationsvermittlung
  • d) Konfliktlösendes Verhalten
  • e) Entwicklung sozialer Umgangsformen
  • f) Nachahmendes Verhalten
  • g) Katharsis
  • h) Existentielle Faktoren
  • i) Kohäsion
  • j) Interpersonelles Lernen
  • aa) Interpersonelle Theorie
  • bb) Die Gruppe als sozialer Mikrokosmos
  • cc) Das Hier und Jetzt

3) Therapeutische Faktoren – ein Überblick
4) Förderung des interpersonellen Lernens
5) Literatur

Ziele

Die Ziele der Langzeitgruppentherapie sind hoch gesteckt und vergleichbar mit denen der intensiven Langzeiteinzeltherapie. Die Gruppentherapeuten hoffen, dass die Patienten nicht nur so weit wie möglich von ihren Symptomen befreit werden, sondern auch eine Veränderung ihrer Persönlichkeitsstruktur erleben. Die Patienten lernen, alte unangepasste interpersonelle Verhaltensmuster zu erkennen und zu ändern – ein Ergebnis, das nicht nur die aktuelle Krise zu bewältigen hilft, sondern die Erlebensweise und das Verhalten eines Patienten so beeinflusst, dass es künftig zu keinen lähmenden Krisen mehr kommt.

Therapeutische Faktoren

Meine eigenen Gedanken zur Gruppentherapie lassen sich erfahrungsgemäß klären, wenn ich mir eine einfache und naive Frage stelle: Wie hilft die Gruppentherapie den Patienten?

Ausgehend von der klinischen Forschung und herrschendem Konsens unter Klinikmitarbeitern kann man eine Liste therapeutischer Faktoren aufstellen, die integrativer Bestandteil der Gruppentherapie sind. (In einer früheren Abhandlung [1989] nannte ich sie „heilende Faktoren“, doch der Begriff „therapeutische Faktoren“ besitzt einen stärkeren Bezug zur Realität.) Die therapeutischen Faktoren sind ein hilfreiches Gerüst, da sie selbst für das gesamte Feld der Gruppentherapie Gültigkeit besitzen. Sie sind das Herzstück der Therapie, und selbst wenn die einzelnen Gruppentherapien sich in ihrer äußeren Form stark unterscheiden, so liegen ihnen doch gemeinsame grundlegende Veränderungsmechanismen zugrunde. Verschiedene Gruppen legen (infolge unterschiedlicher klinischer Gegebenheiten und Zielsetzungen) verschiedene Schwerpunkte auf einzelne dieser therapeutischen Faktoren. Und wie wir noch sehen werden, können sogar Patienten ein und der selben Gruppe von sehr unterschiedlichen Faktoren für sich Gebrauch machen. Die von mir eingeführten therapeutischen Faktoren sind:

  • Einflößen von Hoffnung
  • Universalität
  • Informationsvermittlung
  • Altruismus
  • Konfliktlösendes Aufarbeiten der Erfahrungen in der Herkunftsfamilie
  • Entwicklung sozialer Umgangsformen
  • Nachahmendes Verhalten
  • Katharsis
  • Existentielle Faktoren
  • Kohäsion
  • Interpersonelles Lernen

Einflößen von Hoffnung
Therapiegruppen flößen pessimistischen Patienten, die von einer Therapie nicht viel erwarten, neue Hoffnung ein. Die Gruppenmitglieder befinden sich in verschiedenen Stadien eine Entwicklungskontinuums zwischen Zusammenbruch und Bewältigung und können Hoffnung schöpfen, wenn sie andere Personen und insbesondere solche mit ähnlichen Problemen von der Therapie profitieren sehen.

Universalität
Patienten beginnen eine Therapie häufig mit dem beunruhigenden Gefühl, sie seien einzigartig in ihrem Elend, und nur sie allein hätten bestimmte erschreckende oder unerwünschte Impulse und Phantasien. In der Gruppe hören sie, dass andere sich mit ähnlichen Sorgen, Phantasien und Lebenserfahrungen plagen. Schwindet das Gefühl der Einzigartigkeit, führt das zu großer Erleichterung und zum Gefühl „wieder der menschlichen Spezies anzugehören“.

Informationsvermittlung
Therapiegruppen versorgen ihre Mitglieder unterschwellig oder gezielt mit Informationen. Manche Gruppentherapien (z.B. bei den Anonymen Alkoholikern, Recovery Incorporated, oder in Stressbewältigungsgruppen) bauen bewusst auf einem didaktischen Programm auf. Andere, nicht so streng strukturierte Gruppen versorgen ihre Teilnehmer mit Erklärungen und erläuternden Hinweisen zur Bedeutung von Symptomen, zwischenmenschlichen Prozessen, gruppendynamischen Prozessen und den grundlegenden Vorgängen in der Psychotherapie.

Altruismus
Bittet man Patienten nach Abschluss der Gruppentherapie um eine Rekapitulation, bescheinigen sie den anderen Patienten durch die Bank weg, maßgeblich an ihren Fortschritten beigetragen zu haben. Zu Beginn der Therapie sind die Patienten mutlos und davon überzeugt, dass sie nicht nur sich selbst nicht helfen können, sondern auch anderen nichts Brauchbares zu bieten haben. Die Erfahrung, dass man anderen von Nutzen sein kann, baut Einen dann auf: Sie ermutigt dazu, sich selbst mehr zu schätzen und sich aus dem destruktiven Brüten ewiger Beschäftigung mit sich selbst zu befreien.

Konfliktlösendes Aufarbeiten der Erfahrungen in der Herkunftsfamilie
Die Gruppentherapiesituation ähnelt in vielen Aspekten der Herkunftsfamilie, und Patienten neigen dazu, alte familiäre Konflikte noch einmal zu durchleben. Doch der Therapeut stellt unangepasste Verhaltensmuster stets in Frage und lässt nicht zu, dass sie zum starren, undurchdringlichen System gefrieren, wie es viele Familienstrukturen kennzeichnet. Daher geht es nicht um bloßes Aufarbeiten, sondern um konfliktlösendes Aufarbeiten der Erfahrungen in der Herkunftsfamilie.

Entwicklung sozialer Umgangsformen
Sämtliche Therapiegruppen unterstützen die Patienten darin, soziale Kompetenzen zu entwickeln. In manchen Gruppen erfolgt dies explizit und von gezieltem Einsatz von Methoden wie Rollenspiel, bei dem einzelne Teilnehmer bestimmte schwierige Situationen im mitmenschlichen Umgang erproben (zum Beispiel ein Vorstellungsgespräch oder die Bitte um eine Verabredung), während andere konstruktive Kritik üben. Andere Gruppen üben soziale Fertigkeiten indirekt ein, durch gegenseitiges Feedback, das den Teilnehmern viele Informationen über unangepasstes, „unsympathisches“ zwischenmenschliches Verhalten liefert. Mitglieder von Langzeitgruppen lernen zuzuhören, auf andere einzugehen, unvoreingenommen zu sein sowie Mitgefühl zu entwickeln und auszudrücken – Fertigkeiten, die im künftigen zwischenmenschlichen Umgang große Bedeutung besitzen werden.

Nachahmendes Verhalten
Teilnehmer an Therapiegruppen nehmen sich oft Verhaltensweisen anderer Teilnehmer oder des Therapeuten als Vorbild. Selbst wenn die Vorbildfunktion nur von kurzer Dauer ist, dient die Erprobung neuer Verhaltensweisen als unschätzbarer Katalysator bei der Auflösung erstarrter Verhaltensmuster. Viele nicht so aktive Gruppentherapiepatienten profitieren von Stellvertretereffekten – von der Beobachtung der Therapie anderer Teilnehmer, deren Problemkonstellation ihrer eigenen ähnlich ist.

Katharsis
Affekte offen auszudrücken und sie freizusetzen ist wichtiger Bestandteil der gruppentherapeutischen Erfahrung. Aber es ist lediglich ein Teil des Prozesses, die bloße äußerung führt nur selten zu anhaltendem Erfolg. Besonders wichtig ist es, dass die Gruppenteilnehmer lernen, wie sie die Gefühle ausdrücken können und dass der Ausdruck von Gefühlen keine Katastrophe im zwischenmenschlichen Umgang darstellt.

Existentielle Faktoren
Das existentielle Bezugssystem der Psychotherapie erklärt Angst – und damit die meisten psychopathologischen Probleme – zu einem beachtlichen Grad aus der Konfrontation des Menschen mit gewissen grundlegenden Dimensionen oder „letzten Dingen“ der Existenz: Tod, Freiheit (Verantwortung und Offenheit), Isolation und Sinnlosigkeit. Therapiegruppen setzen sich mit diesen Themen direkt auseinander, in dem die Teilnehmer ihre tiefsten Sorgen offen erörtern und sich gegenseitig mitteilen, und sie tun es indirekt, in dem sie sich auf die Manifestationen existentieller Fragen konzentrieren, wie sie im therapeutischen Prozess sichtbar werden. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Gruppe kann große therapeutische Wirkung erzielen, in dem sie das Verantwortungsbewusstsein von Teilnehmern stärkt, die sich dafür zuständig fühlen, dass die Gruppe funktioniert und sich jede Person ihre eigene Rolle in der Gruppe sucht. Isolation, um ein weiteres Beispiel anzuführen, manifestiert sich in der Gruppe, wenn sich Patienten mit den Problemen von Einsamkeit und Nähe herumschlagen. Sie lernen nicht nur, was Beziehungen leisten können, sondern auch, was sie nicht zu leisten vermögen. Der vertrauensvolle Umgang mit den anderen in der Gruppe mildert die Einsamkeit, schafft sie aber nicht aus der Welt. Jeder muss für sich selbst mit den Grenzen von Beziehungen zurechtkommen und lernen, sich der Isolation, die der Existenz unweigerlich innewohnt, zu stellen.

Kohäsion
Kohäsion – das Gefühl, zusammenzugehören, akzeptiert zu werden, ein volles Mitglied einer wichtigen Gruppe zu sein – ist das gruppentherapeutische Pedant zur „Beziehung“ in der Einzeltherapie. Doch Kohäsion ist ein weiterer Begriff und bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis des Patienten zum Therapeuten, sondern auch zu den anderen Gruppenmitgliedern und zur Gruppe als Ganzem. Sie ist der universalste aller therapeutischen Faktoren in der Gruppentherapie. Sämtliche Therapiegruppen leisten Hilfe, indem sie den Teilnehmern die Erfahrung ermöglichen, einer Gruppe anzugehören. Die meisten Psychiatriepatienten haben auf Grund gestörter interpersoneller Verhaltensweisen und Fertigkeiten nur wenige vertraute Beziehungen erlebt, sie hatten kaum Gelegenheiten, sich gefühlsmäßig mit anderen auseinander zu setzen und von ihnen angenommen zu werden, und blicken im Allgemeinen auf ein verarmtes Gruppenerleben zurück. Die Erfahrung, etwas zu teilen, akzeptiert zu werden und eine Gruppensituation erfolgreich zu meistern, kann bei diesen Patienten große therapeutische Wirkung entfalten.

Interpersonelles Lernen
Der therapeutische Faktor des Interpersonellen Lernens ist kein allgegenwärtiger Veränderungsmechanismus wie die Kohäsion: Es gibt verschiedene Gruppenarten (z.B. therapeutische Gruppen für Krebspatienten, Verhaltenstherapeutische Gruppen oder Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker oder Recovery Incorporated), die diesen therapeutischen Faktor nicht hinzuziehen. In Gruppen jedoch, die sich die Klärung und Modifizierung interpersoneller Verhaltensweisen zum Ziel gesetzt haben, ist dieser therapeutische Faktor ausgesprochen wirkungsvoll. (…)
Interpersonelles Lernen ist in der Gruppentherapie das Gegenstück zu einzeltherapeutischen Faktoren wie Selbstverständnis oder Einsicht, Durcharbeiten der Übertragung und korrigierende emotionale Erfahrung. Interpersonelles Lernen beinhaltet Identifizierung, Klärung und Modifizierung unangepasster interpersoneller Beziehungen.

Um Idee und Wirkungsweise dieses therapeutischen Faktors erklären zu können, muss ich zunächst die drei grundlegenden Annahmen beschreiben, auf denen er basiert:

  • Interpersonelle Theorie
  • Die Gruppe als sozialer Mikrokosmos
  • Das Hier und Jetzt

Interpersonelle Theorie
Zunächst muss daran erinnert werden, dass die Gruppentherapie auf der interpersonellen Theorie beruht. Diese Theorie besagt, dass die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen von den zwischenmenschlichen Beziehungen geformt ist, die er erfahren hat, und dass aktuelle Symptome eines Patienten Ausdruck gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen sind. Personen suchen wegen aller möglichen Beschwerden Hilfe, was sie vereint aber, sind massive Probleme, erfüllende und dauerhafte Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten .
Die Sprache in der Gruppentherapie ist interpersonell geprägt. Jedes Problem eines Patienten muss in einen interpersonellen Zusammenhang übertragen und dann entsprechend behandelt werden. So baut die interpersonelle Psychotherapie bei Depressionen nicht auf die Behandlung der Depression: Dazu bietet die Methode den Therapeuten keinen sicheren Ansatzpunkt. Stattdessen untersucht der Therapeut die zu Grunde liegende interpersonelle Störung (bei Depressionen zeigt sie sich oft in Passivität, Abhängigkeitsbedürfnissen und katastrophalen Reaktionen auf Verlust) und geht dann in geeigneter Weise auf das interpersonale Problem ein.
Die Aufgabe des Gruppentherapeuten besteht darin, dem Patienten zu helfen, dass er die Verzerrungen und Störungen in seinen interpersonellen Beziehungen so gut wie möglich erkennt und behebt. Doch fördert die Gruppe diesen Prozess? Wie kann eine Gruppe (…) das komplexe Netzwerk gegenwrtiger und vergangener Beziehungen eines jeden Mitglieds systematisch erforschen und ändern? Keine Therapiegruppe hat die Zeit und die Geduld für ein solches Unterfangen. Um das interpersonelle therapeutische Bestreben zu verstehen, ist ein anderer Ansatz erforderlich.

Die Gruppe als sozialer Mikrokosmos
Die Therapiegruppe fungiert als sozialer Mikrokosmos. Das besagt, dass man sich, sofern ausreichend Zeit zur Verfügung steht, in der Therapiegruppe sehr ähnlich verhält wie in seinem eigentlichen sozialen Umfeld. Unangepasstes interpersonales Verhalten, das die soziale Integration eines Patienten beeinträchtigt, wiederholt sich, wenn er in der Therapiesituation mit anderen interagiert. Sehnt man sich zum Beispiel nach Vertrautheit, ist aber so fordernd und klammernd in seiner Art, dass man von anderen abgewiesen und isoliert wird, verfällt man in der Gruppe unweigerlich in das selbe Verhaltensmuster. Der Patient, der im Leben draußen zurückhaltend ist oder barsch oder vor Vertrautheit zurückschreckt oder auf destruktive Weise mit anderen konkurriert, wird in der Therapiegruppe ebenso auftreten .
Mit anderen Worten, der Teil steht für das Ganze. In allen Therapieformen – mit Gruppen, Personen oder Familien – gehen die Therapeuten davon aus, das der Verhaltensausschnitt, den sie in der Therapiesitzung erleben, repräsentativ ist für das Verhalten im größeren Rahmen. Auch wenn dieses Prinzip bei allen Therapieformen eine wichtige Rolle spielt, kommt es in der Therapiegruppe am Stärksten zum Tragen. Weil sie ein so breites Spektrum der menschlichen Bevölkerung versammelt (Männer und Frauen, Junge und Alte, Gleichgesinnte, Konkurrenten, Autoritätspersonen, Gebildete und Ungebildete, Arme und Reiche, Individuen aus vielen Lebensbereichen), wird die Gruppe für jeden Patienten zu einem gesellschaftlichen Universum im Kleinformat.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der therapeutische Faktor des interpersonellen Lernens auf der Annahme der interpersonellen Theorie basiert, jede Psychopathologie habe ungeachtet der äußeren Symptome ihre Wurzeln in gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Therapie besteht darin, dem Einzelnen zu helfen, ihm angemessene, befriedigende interpersonelle Beziehungen zu entwickeln. Darüber hinaus geht der Gruppentherapeut davon aus, dass sich die unangepassten interpersonellen Verhaltensmuster des Patienten im Kontext der Therapiegruppe wiederholen. Indem er jeden Patienten dabei unterstützt, seine Verhaltensmuster in der Therapiegruppe zu durchschauen, hilft der Therapeut dem Patienten auch, wesentliche Züge seines interpersonellen Verhaltens zu seinem äußeren sozialen Universum zu verstehen.

Das Hier und Jetzt
Diese Annahmen führen zu der Schlussfolgerung, dass die Daten, die man zur Klärung der problematischen Lebenssituation des Patienten braucht, am Ort der Therapie verfügbar sind, und zwar in der Gruppeninteraktion im Hier und Jetzt. Es ist kaum notwendig, das der Patient der Gruppe Einzelheiten aus seiner Vergangenheit berichtet oder ausführlich beschreibt, was in seinem Leben schief gelaufen ist. Weitaus genauere, „lebendige“ Daten ergeben sich aus der Beobachtung des unmittelbaren interpersonellen Verhalten eines Patienten im Hier und Jetzt der Gruppe. Darüber hinaus, und dies ist ein wesentlicher Punkt der therapeutischen Strategie, werden Patienten, die im Hier und Jetzt der Gruppe unangepasste interpersonelle Verhaltensmuster korrigieren und neue Verhaltensweisen ausprobieren, das Erlernte schließlich in ihr externes Leben übertragen .
Daraus folgt, dass sich die Gruppe in erster Linie auf das Hier und Jetzt konzentrieren sollte, auf die Vorkommnisse, die sich direkt in der Gruppentherapiesitzung ereignen. Die Hauptaufgabe der Therapiegruppe wird von einer unrealistischen Vorgabe – nämlich ein „externes“ Problem zu lösen – in eine interne Gruppenaufgabe umgewandelt, das heißt, jedem einzelnen Mitglied soll geholfen werden, so viel wie möglich darüber zu erfahren, wie es sich gegenüber den anderen Mitgliedern verhält.
Die Konzentration auf das Hier und Jetzt nimmt in der Arbeit der Gruppe eine so zentrale Rolle ein, dass ich sie später noch ausführlich thematisieren werden (Kapitel 4). An dieser Stelle ist noch wichtig zu erwähnen, dass sie nicht nur den therapeutischen Faktor des interpersonellen Lernens fördert, sondern auch als Katalysator für weitere Faktoren wirkt.
Nehmen wir zum Beispiel die Kohäsion. Soll in einer Gruppe Kohäsion entstehen, müssen die Mitglieder der Gruppe an ihre Effizienz glauben, das heißt, sie müssen davon überzeugt sein, dass die Gruppe sie in die Lage versetzt, ihre persönlichen Ziele zu erreichen, und sie müssen an den Aktivitäten der Gruppe Gefallen finden. Eine Gruppe, die sich auf das Hier und Jetzt konzentriert, also auf die realen Interaktionen, ist fast unweigerlich eine vitale, kohäsive Gruppe. Es gibt nichts öderes als Gruppensitzungen, bei denen eine große Anzahl von Menschen herumsitzt und teilnahmslos zuhört, wie ein einzelnes Mitglied in allen Details einen bestimmten Aspekt seiner vergangenen oder gegenwärtigen Lebenssituation erörtert. Oftmals sind solche Schilderungen verwirrt und unzutreffend, und häufig sind sie für die meisten anderen Patienten relativ nichtssagend, insbesondere für jene, die bis dahin kaum Gelegenheit hatten, eine enge Beziehung zum Erzähler aufzubauen. Im besten Fall hoffen die Zuhörer auf das Prinzip der Abwechslung, dass also zu gegebener Zeit auch sie Gelegenheit haben werden, der Gruppe ihre Lebensprobleme zu schildern, um Unterstützung oder einen Lösungsvorschlag zu erhalten.
Konzentriert sich die Gruppe auf das Hier und Jetzt und hat der Therapeut die Patienten ausdrücklich darüber informiert, warum es wichtig ist, interpersonelle Verhaltensmuster zu ändern, erleben die Teilnehmer die Gruppe als relevant und effizient. In einer Gruppe, in der sich die Teilnehmer kontinuierlich darüber austauschen, was ihnen an den anderen auffällt und welche Gefühle sie den anderen gegenüber entwickeln, ist kein Mitglied weit von der Bühnenmitte entfernt. Alle Teilnehmer spüren, dass sie jederzeit ins Rampenlicht treten können, und die interagierende Gruppe zieht automatisch ein größeres Interesse der Patienten auf sich, stärkt die Zuversicht, die Anwesenheitsquote und letztlich die Kohäsion.
Eine Hier-und-Jetzt-Gruppe hilft auch bei der Aneignung sozialer Fertigkeiten. Die Teilnehmer erhalten Feedback und lernen, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen. Sie entdecken zum Beispiel, welche Aspekte ihres Verhaltens andere dazu bringen, ihnen näher zu kommen und/oder ihnen aus den Weg zu gehen. Sie erfahren, dass sie sich unwissentlich selbst geschadet haben, dass ihr Verhalten sie trotz ihres starken Wunsches, mit den anderen Kontakt zu haben, in höchst unerwünschte Isolation getrieben hat.

Therapeutische Faktoren – ein Überblick

Ich habe vom gruppentherapeutischen Prozess abstrahiert und die elf Faktoren so behandelt, als wären sie abgeschlossene Einheiten. Das sind die selbstverständlich nicht, sondern sie sind auf subtile Weise voneinander abhängig. Wie die letzten Absätze andeuten, fördern sich die therapeutischen Faktoren nicht nur wechselseitig, sondern es kann auch sein, dass verschiedene Teilnehmer derselben Therapiegruppe unterschiedliche Faktoren schätzen. Möglich ist sogar, dass ein und demselben Patienten in verschiedenen Phasen der Therapie verschieden Faktoren wichtig sind.
Dennoch kann man durch Vergleich der therapeutischen Faktoren in der traditionellen Langzeittherapie zu einigen Verallgemeinerungen gelangen. Der Faktor, den erfolgreiche Gruppentherapiepatienten als den wichtigsten erachten, ist das interpersonelle Lernen in Verbindung mit Katharsis und Einsicht. Patienten sammeln Informationen, wie sie sich anderen gegenüber verhalten, beginnen zu verstehen, dass ihre festgefahrenen interpersonellen Verhaltensmuster in ihrer momentanen Lebenssituation unbrauchbar sind, entdecken bis dahin unbekannte Teile ihrer selbst und probieren allmählich neue Verhaltensweisen aus. Keiner dieser Schritte erfolgt rein rational, sondern verbindet sich mit dem Ausdruck von Affekten und dem Gefühl, von der Gruppe akzeptiert zu werden. Darüber hinaus erkennen die Patienten, dass sie letzten Endes ganz allein die Verantwortung dafür tragen, was sie mit ihrem Leben anfangen. Daher spielen interpersonelles Lernen, Katharsis, Kohäsion und existentielle Faktoren die Hauptrolle gegen Mitte und Ende einer Langzeitgruppentherapie. Andere, von Patienten weniger häufig genannte Faktoren, wie Universalität, Einflößen von Hoffnung und Altruismus, dominieren in der Anfangsphase.
Zu beachten ist auch, dass sich diese Faktoren über einen langen Zeitraum entwickeln. Oft sind Grundmuster interpersonellen Verhaltens erst allmählich zu erkennen. So ist jemand zu Beginn einer Beziehung vielleicht charmant und großzügig und nutzt andere später aus. Monate können vergehen, bis ein solches Muster offenkundig wird, die Mitglieder erkennen es und darauf reagieren, der Betroffene das entsprechende Feedback erhält und akzeptiert, einige der ihm bis dahin unbekannten Ursachen dieses Verhaltens versteht und allmählich neue Verhaltensweisen erprobt. Das Tempo der Gruppe ist gemessen, Probleme werden gründlich und bewusst durchgearbeitet. Die Patienten lernen einander sehr gut kennen, und jede Verhaltensnuance wird unter die Lupe genommen.
Natürlich ist der Abschluss ein wichtiges Ereignis. Das Abschied nehmen fällt schwer und zieht sich in die Länge. Häufig werden viele Sitzungen darauf verwendet, sich mit der Dynamik auseinander zu setzen, die durch Beendigung der Therapie in Gang gebracht wird.
Man könnte noch viel über die Gruppenprinzipien der traditionellen Gruppentherapie sagen. Hier aber geht es nicht um eine gründliche Abhandlung, sondern um einen Überblick über die traditionelle Gruppentherapie. Argumente für das Hier und Jetzt

Förderung des interpersonellen Lernens (S. 216 – 218 )

Warum so viel Gewicht auf das Hier und Jetzt legen? Wie trägt diese Konzentration zu therapeutischer Veränderung bei? Um diese Fragen zu beantworten, muss ich zunächst auf zwei grundlegende Annahmen eingehen ? Annahmen, denen nur sehr wenige Kliniker widersprechen werden (Eine ausführliche Erörterung dieser Annahmen finden Sie in meiner Abhandlung Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie [1989]). Erstens geht man davon aus, dass Psychopathologien zum einen vermutlich sehr hohen Grad in gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen gründen. Auch wenn sich Personen mit den unterschiedlichsten Symptomen in Therapie begeben, glauben Therapeuten, dass alle Symptome eine interpersonelle Komponente enthalten. Das ist die Grundannahme der interpersonellen Theorie der Psychopathologie und führt zur Überlegung, dass Therapeuten nicht das äußere Symptom behandeln sollten, sondern vielmehr die tieferliegende interpersonelle Pathologie .
Die zweite Annahme geht davon aus, dass die interpersonelle Pathologie des Patienten in der kleinen Therapiegruppe aufgearbeitet wird. Egal welches zwischenmenschliche Problem ein Patient hat – sei es Arroganz, Aggressivität, Abhängigkeit, Habgier, Narzissmus oder irgend ein anderes aus der unendlichen Reihe unangepasster Verhaltensmuster, denen Personen im Umgang miteinander folgen -, in seinem Verhalten in der Therapiegruppe wird es zu Tage treten. Auf diese Weise wird die Gruppe zu einem sozialen Mikrokosmos und kann das interpersonelle Verhalten eines jeden seiner Mitglieder „sezieren“.
Sofern die beiden Annahmen zutreffen, liegen die Argumente für die Betonung des Hier und Jetzt auf der Hand. Um das Wesen der tiefer liegenden Pathologie einer Person zu erkennen, braucht der Therapeut vom Patienten keine detaillierte, in die Vergangenheit zurückgreifende Schilderung dieser Pathologie. Sämtliche Informationen, die ein Therapeut für die Beurteilung der grundlegenden Probleme eines Patienten braucht, offenbaren sich im gruppentherapeutischen Prozess. Im Laufe der Therapiegruppensitzung reproduziert jeder Patient unangepasste interpersonelle Verhaltensmuster. Kommt hinzu, dass viele Personen dieses Verhalten beobachten, viele von ihnen aus einer leicht veränderten Perspektive. So erhält man eine Fülle von Informationen, und die Aufgabe des Therapeuten besteht nun darin, diese Informationen zu Tage zu fördern und dem Patienten zugänglich zu machen. Indem er den einzelnen Patienten anleitet, sich mit den Augen anderer zu betrachten und sein unangepasstes Verhalten in der Gruppe zu erkennen, hilft der Therapeut ihm zu verstehen, was in seinem sozialen Umfeld insgesamt schief gelaufen ist .
Die Konzentration auf das Hier und Jetzt stellt nicht nur jedem Patienten eine unschätzbare Quelle an Information zur Verfügung, sondern bietet ihm auch eine sichere Bühne um mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren. Einer der Gründe für ein Erstarren des Verhaltens ist der, dass Menschen zählebige Katastrophenängste entwickeln und glauben, etwas extrem Unangenehmes könne passieren, sollten sie ihr Verhalten ändern. So hat ein unterwürfiger, passiver Mann sehr wahrscheinlich Angst vor ausgesprochen unangenehmen Folgen (wie Ablehnung, massive aggressive Vergeltung, Hohn), wenn er selbstbewusster auftreten würde (in dem er zum Beispiel jemandem widerspricht, jemanden unterbricht, mehr Zeit für sich einfordert oder Wut artikuliert). Soll eine Veränderung eintreten, müssen diese Katastrophenängste unschädlich gemacht werden. Doch diesem Prozess muss eine unmittelbare Erfahrung entsprechen. Die Katastrophenängste sind nicht aus der Vernunft geboren, und keine noch so intensive intellektuelle Auseinandersetzung wird sie zerstreuen können .
Der entscheidende therapeutische Mechanismus besteht darin, die Verhaltensweisen, vor denen man solche Angst hat, auszuprobieren und dabei festzustellen, dass die erwarteten Katastrophen nicht eintreten. Es ist ein kraftvoller therapeutischer Moment, wenn eine Person zum ersten Mal selbstbewusst handelt und statt Wut oder Ablehnung mehr Akzeptanz, Respekt und Zuneigung von den anderen erfährt.
Doch es ist extrem schwierig, ein neues Verhalten im normalen Umfeld zu erproben. Die Risiken sind groß: Wichtige Beziehungen könnten Schaden nehmen, Menschen, von denen man abhängig ist, könnten sich abwenden, es gibt keine Gewähr für aufrichtige und nicht gespielte Reaktionen unter den Mitmenschen. Im Hier und Jetzt der Therapiegruppe geht man bedeutend weniger Risiko ein, wenn man mit neuem Verhalten experimentiert. Die Beziehungen sind echt, aber gleichzeitig nicht für die „echte“ Welt gedacht. Die anderen Gruppenmitglieder sind momentan wichtig, werden aber im weiteren Leben keine größere Rolle mehr spielen. Und eine weitere Grundregel der Therapiegruppe besagt, dass die Mitglieder, egal was passiert, immer miteinander im Gespräch bleiben. Die Anwesenheit des Therapeuten schränkt das Risiko ebenfalls ein, der Patient kann sich einer stützenden Kraft sicher sein, die sämtliche Reaktionen auf sein verändertes Verhalten überwacht .
Erfolge in der Therapiegruppe übertragen sich schnell auf das Verhalten außerhalb der Gruppe. Der Gruppentherapeut geht grundsätzlich davon aus, dass der Lerntransfer automatisch vonstatten geht: Nachdem Patienten neues Verhalten in der Gruppe erfolgreich ausprobiert haben, verändern sie analog dazu ihr Verhalten auch andernorts. Einzelnen Patienten gelingt dieser Transfer nicht, in diesen Fällen muss der Therapeut bewusst mehr Aufmerksamkeit auf diesen Prozess verwenden.

Literatur:

Yalom, Irvin D.: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie, Ein Lehrbuch, München 1989
Yalom, Irvin D.: Existentielle Psychotherapie, Köln 1989a
Yalom, Irvin D.: Die Liebe und ihr Henker und andere Geschichten aus der Psychotherapie, München 1993
Yalom, Irvin D.: Die rote Couch, München 1998
Yalom, Irvin D.: Die Reise mit Paula, München 2000
Yalom, Irvin D., Elkin, Ginny: Jeden Tag ein bisschen näher, Eine ungewöhnliche Geschichte, München 2001
Yalom, Irvin D.: Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht, München 2002
Yalom, Irvin D.: Was Hemingway von Freud hätte lernen können, München 2003
Yalom, Irvin D.: Liebe, Hoffnung, Psychotherapie, München 2004
Yalom, Irvin D.: Im Hier und Jetzt, Richtlinien der Gruppenpsychotherapie, München 2005
Yalom, Irvin D.: Die Schopenhauer-Kur, München 2005