Tinnitus
Dr. med. Ekkart Schwaiger, Arzt und Psychotherapeut

„Krankheiten befallen uns nicht aus heiterem Himmel, sondern entwickeln sich aus täglichen Sünden wider die Natur. Wenn sich diese gehäuft haben, brechen sie unversehens hervor.“
(Hippokrates)

Übersicht:

Vorgeschichte
Behandlung
Ergebnisse
Reflexion

Vor einigen Jahren kam Herr St. auf Empfehlung eines Kollegen zu mir.
Er hatte eine lange Ärzte–Odyssee hinter sich.

Vorgeschichte

Nach einer zweijährigen Streßperiode, in der er Kaffee, Zigaretten und Alkohol verstärkt zu sich nahm, hatte er einen Hörsturz erlitten, der mit Tinnitusgeräuschen auf beiden Ohren einher ging. Sein rechtes Ohr erholte sich relativ schnell wieder, jedoch das linke Ohr hatte noch für einige Tage den Hörverlust und das Ohrklingeln. Der Hörverlust verschwand allmählich und das Klingeln ging in ein zirpendes Geräusch über, das sich nicht mehr besserte.
Herr St. war niedergeschlagen und panisch bei dem Gedanken, ständig von diesem lästigen Geräusch umgeben zu sein. Er konnte abends nicht mehr einschlafen, weil das Geräusch immer unangenehmer wurde, zumal dann, wenn er nicht durch seine Alltagsbeschäftigung abgelenkt war, sondern sich dann auf das Geräusch konzentrierte. Die Folge waren Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit und Erschöpfung.
Er ging zu einem HNO – Facharzt, der ein normales Hörvermögen und eine Durchblutungsstörung des Innenohrs feststellte, die er mit durchblutungsfördenden Mitteln behandelte, was aber keine entscheidende Änderung brachte. Herr St. konzentrierte sich immer mehr auf sein Ohrgeräusch und wanderte von Arzt zu Arzt und von Untersuchung zu Untersuchung. Nach und nach wurde der Tinnitus zum Zentrum seines Lebens.

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Als er zu mir in Behandlung kam,

beschäftigten wir uns, auf der biologischen Ebene mit seiner aktuellen Krankheitsgeschichte (mit all den medizinischen Befunden, die inzwischen erhoben worden waren),
auf der Beziehungsebene mit seiner beruflichen und privaten Situation zu Beginn der Erkrankung und während der Therapie und
auf der personalen Ebene mit seiner Lebensgeschichte und seiner individuellen Weltsicht (und damit auch seiner persönlichen Art, Krankheit zu erleben).

Es stellte sich heraus, daß Herr St. beruflich in einer extremen Drucksituation war, weil er Angst hatte, bei einer für seine Firma notwendigen Umstrukturierung nicht mehr gebraucht zu werden, daß er „abgebaut“ werden könnte. Er strengte sich besonders an, für seinen unmittelbaren Vorgesetzten unentbehrlich zu sein und wagte es daher nicht, sich gegen dessen überzogene Ansprüche und Schikanen zur Wehr zu setzen.

Privat stand er unter dem Druck, mit seiner Frau viel zu unternehmen, da sie sich durch sein vermehrtes berufliches Engagement vernachlässigt fühlte und mit Trennung drohte. In seiner Angst, den Beruf und die Frau zu verlieren, hörte auf alle anderen und überhaupt nicht mehr auf sich selbst.

In seiner Kindheit war sein Vater beruflich viel unterwegs und fast nie zu Hause. Die Mutter war sehr leistungsorientiert, fordernd und strafend; ihr Lieblingssatz, wenn er nicht nach ihren Vorstellungen funktionierte, war: „Wer nicht hören will, muß fühlen“. So hatte Herr St. gelernt, auf Ansprüche und Forderungen zu hören, die von außen kommen, jedoch nicht auf seine eigene innere Stimme.

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Ergebnisse

Wir fanden heraus, daß er sich an das Ohrgeräusch gewöhnen konnte, wenn er sich nicht dagegen wehrte und es damit immer wieder ganz in den Mittelpunkt seines Erleben stellte bzw. ihm die ganze Aufmerksamkeit schenkte. Andererseits wurde klar, daß es auch immer leiser wurde, wenn er mehr auf sich, seine Bedürfnisse, Impulse und Gefühle hörte, was er während der nächsten Jahre in einer wöchentlichen Gruppentherapie lernte.

Er erlaubte sich mehr und mehr, der zu sein, der er tief drinnen eigentlich war.
Je weniger er sich sklavisch unterordnete, je klarer er seine eigenen (kreativen) Ideen einbringen konnte und je mehr er sich auch den Konflikten stellte, um so mehr schätzte und anerkannte ihn sein Vorgesetzter.
Je mehr er sich selber vertrat und nicht mehr versuchte, es seiner Frau recht zu machen, um so attraktiver wurde er wieder für sie, obwohl das mit vielen Auseinandersetzungen einher ging.

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Reflexion

Diese Therapie hatte eine lange Vorgeschichte und dauerte einige Jahre; sie ist hier naturgemäß verkürzt dargestellt.

Die Psychosomatik bezieht sich im Umgang mit Krankheit und Gesundheit auf die biologische, die psychische und die soziale Ebene des Menschen. Betont man nur einen Aspekt, verliert man die anderen Aspekte und Möglichkeiten der Heilung oder Besserung aus dem Auge. So wie das biologisch – naturwissenschaftliche Modell der Natur des Menschen nicht gerecht werden kann, kann auch die Psyche überbewertet werden. Die biologische Ebene bildet notwendigerweise einen wichtigen Pol des psychosomatischen Denkens und Handelns. Nach der jahrzehntelangen Konzentration auf die rein organische Seite der Krankheiten fallen viele Menschen ins andere Extrem und sehen sämtliche Beschwerden als rein psychisch bedingt.

Der Mensch ist eine Körper-Seele-Einheit in einem Beziehungsgeflecht. Was an Gefühlen, Impulsen, Bedürfnissen, Wahrnehmungen und Erleben unerlaubt und beschämend erscheint, darf nicht ausgedrückt, ja meistens nicht einmal wahrgenommen werden. So drückt die körperliche Erkrankung häufig unerlaubte Inhalte aus und verschlüsselt die seelische Not. Diese körperlichen Signale einer seelischen Schwierigkeit oder Beziehungskrise wieder zu entschlüsseln ist oft sehr schwierig, weil einerseits der verborgene seelische Schmerz und andererseits die damit verbundene Beschämung wieder spürbar werden. Außerdem haben viele Menschen Angst, als „Psycherl“ abgewertet zu werden, oder an ihrem Schicksal Krankheit auch noch „selbst schuld“ zu sein (z.B. Selbstvorwürfe: „Womit habe ich das verdient?“). Denn bei der Suche nach der Ursache und dem Sinn seiner Krankheit ist der Mensch sehr verletzbar und unsicher. Körperliche Leiden werden von der Gesellschaft anerkannt und gepflegt. Also: lieber Medikamente nehmen als mein Leben ändern!

Besonders in der westlichen Welt sind psychische Leiden aber als Wegbereiter für körperliche Beschwerden sehr bedeutsam. Durch die ständige seelische Belastung können Krankheiten wie Migräne, Verdauungs- und Herzbeschwerden oder sogar Krebs zum Ausbruch kommen. Gleichzeitig stellt der schwache Seelenzustand aber ein Hindernis für die Heilung dar.

Im Gegensatz zu früher ist heute die Überforderung das Hauptproblem der meisten Menschen. Erschöpfung und Ratlosigkeit der Fülle von Möglichkeiten des Lebens gegenüber drücken sich häufig in Schmerzen und Ermüdungszuständen aus. Häufige psychosomatische Leiden der neunziger Jahre sind Erschöpfungszustände, wie das „Chronische Erschöpfungssyndrom“ und das „Burn-out-Syndrom“, ferner der sogenannte „Weichteilrheumatismus“ (Entzündungen von z. B. Magen, Harnblase), Schmerzen (Kopf etc.) oder Allergien.

Im biologisch – naturwissenschaftlichen Modell hängen seelische und körperliche Leiden folgendermaßen zusammen: Alle Reize werden über das Gehirn an das Hormonsystem und von dort an das Immunsystem weitergeleitet. Menschen, die ihre Probleme oder Konflikte über eine lange Zeit nicht lösen können, schwächen damit ihr Immunsystem.

Sobald dann in der Folge Krankheiten auftreten, der Mensch also nicht mehr funktioniert, so wie er soll, entsteht eine neue seelische Krise (über Selbstabwertung, weil er seinen Ansprüchen, gut zu funktionieren, nicht entspricht). Das kann sich dann immer weiter aufschaukeln.

Die Aufarbeitung psychischer Probleme und Konflikte wird von Patienten wie von vielen Ärzten gescheut. Die Beschwerden sollen nur rasch verschwinden, und das am besten mit irgendeinem Mittel, das ohne eigenes Zutun heilt.

In der Psychotherapie können die Zusammenhänge mit der eigenen Lebensgeschichte erfahren, die alten Konflikte und Beschämungen wahrgenommen und aufgearbeitet werden, bzw. in Relation zum jetzigen Erwachsenenleben gestellt und damit entschärft werden. Besonders hilfreich kann dabei die Unterstützung durch eine Gruppentherapie sein, die von dem Betroffenen wie eine „neue Familie“ erlebt wird, in der vieles möglich wird, was zu Hause unmöglich war.

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